Frank Wormuth vor dem Länderspiel gegen Holland: "Die Deutschen schleppen nach der WM noch einiges mit sich rum"
Der frühere DFB-Chefausbilder Frank Wormuth über seinen neuen Job, die Qualität des holländischen Fußballs und das Länderspiel gegen Deutschland.
Herr Wormuth, Joachim Löw wurde vor kurzem zum holländischen Fußball befragt. Er hat geantwortet, dass er auf dem Laufenden sei, weil ein Freund von ihm Trainer in Holland sei. Wir nehmen an, er meinte Sie.
Das könnte sein.
Hat sich Löw zuletzt mal bei gemeldet?
Zuletzt nicht.
Was könnten Sie dem Bundestrainer denn über den holländischen Fußball berichten?
Ich weiß nicht, ob ich ihm helfen könnte. Jogi muss sich ja auf die Nationalmannschaft konzentrieren. Zwei Drittel der Spieler stehen im Ausland unter Vertrag, die meisten in England.
Gibt es dafür einen guten Grund?
Natürlich. Holland ist ein kleines Land. Nimmt man die drei, vier Top-Mannschaften – Ajax Amsterdam, Eindhoven, Feyenoord und vielleicht Alkmaar – einmal aus, werden die Spieler aus der Ehrendivision sehr bescheiden bezahlt. Schon deshalb schauen andere Länder gern hier rüber. Holländische Fußballer sind gut ausgebildet und günstig zu haben.
Hängt das auch mit der mangelnden Qualität der Ehrendivision zusammen, dass viele Spieler früh ins Ausland wechseln?
Nein, die Qualität der Liga, das Niveau ist wirklich gut. Natürlich ist das in der Masse nicht vergleichbar mit der Bundesliga. Aber die ersten vier Klubs könnten in Deutschland locker in der Ersten Liga spielen. Das hat man ja vorige Woche bei Ajax gegen Bayern gesehen. Aber hinter diesen Topklubs gibt es einen Bruch. Wir haben mit Heracles Almelo in der Vorbereitung nicht ohne Grund gegen deutsche Vereine aus der Zweiten und Dritten Liga gespielt und kein einziges Mal gewonnen.
Woran liegt das?
Dieses brutale Zweikampfverhalten, das wir in Deutschland permanent erleben, gibt es hier nicht so. Größtenteils haben Sie hier bedeutend mehr Raum. Genau daran arbeite ich mit Heracles, und das ist auch ein Grund, warum wir mit unseren bescheidenen Mitteln trotzdem Punkte holen – weil wir versuchen, über 90 Minuten kompakt zu bleiben und dadurch gerade in der Defensive Fehler kompensieren können. Dass das nicht immer klappt, sehen Sie daran, dass wir in zwei Auswärtsspielen neun Tore kassiert haben. Eigentlich kann das nicht sein. In Deutschland ist man über 90 Minuten konzentriert, in Holland gibt es immer wieder Phasen, wo die Spieler mal durchatmen. Ich rede vom Durchschnitt in der Liga, nicht von Ajax Amsterdam, das den Bayern durch sein Pressing 60, 70 Minuten den Schneid abgekauft hat. Erik ten Haag …
… der Trainer von Ajax …
… ist ja auch bei den Bayern gewesen. Der kennt die deutsche Kultur und hat sie bei Ajax eingebracht. Wahrscheinlich war das auch ein Grund, warum ich hier eine Chance bekommen habe. Weil die Holländer auf den deutschen Fußball schauen und sich fragen, ob man dessen Stärken nicht integrieren kann. Das versuche ich: die deutsche Disziplin und Ordnung über 90 Minuten mit der holländischen Freizügigkeit im Offensivspiel zu verbinden.
Der holländische Fußball fühlte sich dem deutschen fast schon moralisch überlegen. Begegnet Ihnen diese Haltung noch?
Nein. Man muss dazu aber auch wissen, dass Almelo an der Grenze zu Deutschland liegt. Die Menschen hier haben ein bisschen die deutsche Kultur verinnerlicht. Sie kommen mir fast ein bisschen westfälisch vor: offen, direkt, humorvoll. In bürokratischen Dingen sind sie sogar manchmal deutscher als die Deutschen.
Hat sich Heracles denn eher für den Trainer Frank Wormuth entschieden oder für einen Trainer aus Deutschland?
Ich glaube, dass es eine Mischung war. Die Entscheider hatten bei mir das Gefühl: Der hat eine klare Vorstellung vom Fußball. Und einen Weg, sie den Spielern beizubringen. Das hat ihnen imponiert.
Was ist der größte Unterschied zum deutschen Fußball?
Bei meiner Vorstellung hier wurde ich gefragt, was meine Idee vom Fußball sei. Ich habe angefangen: „Im Abwehrverhalten stelle ich mir folgendes vor …“ Da haben sie gesagt: „Stopp! Sie sind der erste Trainer, der mit dem Abwehrverhalten beginnt. Alle anderen haben zuerst über das Offensivverhalten gesprochen.“ Offensiv, immer wieder offensiv, das ist das Denken hier in Holland.
Erkennen Sie das auch in der Nationalmannschaft wieder, oder macht sich da bereits der Einfluss der Spieler aus ausländischen Ligen bemerkbar?
Ich habe die Nationalmannschaft bisher zu selten gesehen. Aber Ihre Aussage klingt zumindest logisch: Wer in England spielt, muss auch defensiv stark sein.
Zu Bondscoach Ronald Koeman haben Sie dann vermutlich auch keinen Kontakt.
Liebe Güte. Natürlich nicht. Ich habe zwar drei Nationalspieler, einen aus Syrien, einen aus Curaçao und seit neustem sogar einen schwedischen. Das ist eine Sensation für Almelo. Aber ein Holländer ist nicht dabei.
Die Elftal hat sich weder für die EM 2016 noch für die WM 2018 qualifiziert. Nagt das am fußballerischen Selbstverständnis der Holländer?
Sie jammern nicht, sagen aber auch, wir haben eine schöne schwere Krise und müssen schauen, wie wir da wieder rauskommen. Der neue Präsident des nationalen Verbandes KNVB ist der frühere Präsident von Heracles, und der Sportdirektor Nico-Jan Hoogma unser früherer Sportdirektor. Mit ihm habe ich Anfang des Jahres noch das erste Bewerbungsgespräch hier geführt. Beide sehe ich öfters. Ich habe mal gehört: Ein Grund für die Krise könnte die Kunstrasenproblematik sein.
Inwiefern?
Es gibt in Holland, auch in den unteren Klassen, immer mehr Kunstrasenplätze. Wenn man nach Gründen sucht, warum man gerade im defensiven Zweikampf nicht so stark ist, könnte man zumindest auf die Idee kommen: Weil die Spieler nicht gern zur Grätsche runter und nicht richtig in die Zweikämpfe gehen.
Was könnten noch die Gründe sein?
Vielleicht ist das einfach nur eine Phase, die es im Fußball immer mal gibt. Deutschland hat es bei der WM zum ersten Mal seit Jahren nicht unter den ersten vier geschafft. Muss man deshalb gleich von einer Krise reden? Ich finde es einfach normal, dass es Höhen und Tiefen gibt. Die Engländer haben aufgeholt, hauen im Jugendbereich plötzlich alles weg, die Franzosen waren lange weg, jetzt sind sie plötzlich wieder da. Das ist doch das Schöne, weil Unberechenbare am Fußball. Wir Deutschen sind natürlich sehr gründlich und überlegen uns, warum, wieso, weshalb? Und wenn man sucht, findet man natürlich auch Probleme. Aber vielleicht steht irgendwo oben der Fußballgott und sagt: So, jetzt sind mal die Franzosen dran.
Wenn es so wäre, dann werden die Holländer gerade wieder ein bisschen stärker vom Fußballgott bedacht, oder?
Noch haben sie ja keinen Erfolg.
Aber sie haben zumindest wieder ein paar hoffnungsvolle Talente.
Das auf jeden Fall. Matthijs de Ligt ist das Paradebeispiel, 19 Jahre und trotzdem schon Kapitän von Ajax. Der Junge ist vom Feinsten. Spielt solide, klar und deutlich.
Auch von Frenkie de Jong schwärmt die Fußballwelt. Halten Sie den Hype für übertrieben?
Absolut nicht. De Jong kommt von Willem II, einem bescheidenen Verein, und hat bei Ajax gleich richtig eingeschlagen. Wer das schafft, fällt zurecht auf. De Jong spielt brutal selbstbewusst, macht Dribblings am eigenen Strafraum, ist ständig unterwegs, spielt einen ganz tollen, sicheren Fußball. Er ist ganz cool und abgebrüht. Ich finde sowieso, dass es in Holland sehr viele gute Fußballspieler gibt, richtig gut ausgebildet. In der Offensive sind sie aber oft auch eindimensional. Die wollen alle wie Robben sein. Die Mannschaften spielen auch fast ausschließlich im 4-2-3-1. Sie weichen davon nicht ab und verändern ihre Formation auch nicht. Ich habe das zweimal versucht, aber die Spieler hatten damit echte Probleme. In Deutschland sagen wir: „Moment mal, das ist doch ganz normal.“ Julian Nagelsmann ändert in einem Spiel dreimal die Formation. In Holland wäre das völlig undenkbar.
Glauben Sie trotzdem, dass Holland den Deutschen gefährlich werden kann?
Selbstverständlich! Die Holländer können alle Fußball spielen. Und ich glaube, dass wir Deutschen nach der WM noch einiges mit uns rumschleppen und deshalb nicht in der besten Verfassung sind. Einen großen Umbruch hat es ja nicht gegeben. Das ist auch begründet und in Ordnung. Aber es heißt eben auch: Es gibt noch Baustellen, die erst noch aufgelöst werden müssen.
Frank Wormuth, 58, arbeitet seit dieser Saison als Trainer beim holländischen Erstligisten Heracles Almelo, mit dem er aktuell Tabellenvierter der Ehrendivision ist. Zuvor war der gebürtige Berliner zehn Jahre lang beim Deutschen Fußball-Bund als Leiter der Trainerausbildung tätig. Mit Bundestrainer Joachim Löw hat Wormuth zusammen in Freiburg gespielt, zudem war er bei Fenerbahce Istanbul sein Co-Trainer.