Sport-Literatur: Die Boateng-Brüder: Vom Wedding in die Welt
Psychogramm, Gesellschaftsporträt, Fußballbiografie – "FAZ"-Redakteur Michael Horeni hat ein lesenswertes Buch über die Berliner Brüder Boateng geschrieben.
Berlin - Es war der 15. Mai 2010, an dem Kevin-Prince Boateng Deutschland in hellste Aufregung versetzte, beim englischen Cup-Finale, das sein damaliger Verein FC Portsmouth gegen den FC Chelsea bestritt. Bis zu diesem Tag war Boateng nur in der Fußballszene bekannt, als hochtalentierter, aber auch sehr schwieriger Fußballer. Nach einem unschönen Foul an Michael Ballack in eben jenem Spiel kannte auf einmal das ganze Land den 1987 in Berlin geborenen Fußballer: Kevin-Prince Boateng war derjenige, der Ballack die WM vermasselte und damit möglicherweise der deutschen Fußballnationalmannschaft die Chance auf den WM-Titel nahm.
Er war der „Buhmann Nummer eins“ („Die Welt“). Zusätzlich brisant wurde es, als sich Kevin-Prince im Trikot der Nationalmannschaft Ghanas und sein eineinhalb Jahre jüngerer Bruder Jerome als Verteidiger der deutschen Nationalelf in der Vorrunde der WM in Südafrika gegenüberstanden. Außer dass beide sehr gut spielten, passierte jedoch nichts – nichts, was die Fußballnation Deutschland noch einmal gegen Kevin-Prince Boateng und schon gar nicht gegen seinen zeitweilig in Sippenhaft genommenen Bruder aufbringen oder anderweitig hätte elektrisieren können.
Die Geschichte der beiden erfolgreichen Fußballer Boateng, des guten und des vermeintlich bösen Bruders, sie ist in diesen Tagen des Jahres 2010 oft erzählt worden. Sie gehört zum Kanon der jüngeren deutschen Fußballvergangenheit. Auch der „FAZ“-Sportjournalist Michael Horeni kommt in seinem Buch „Die Brüder Boateng. Drei deutsche Karrieren“ nicht umhin, die Ereignisse vor, während und nach der WM in Südafrika ein weiteres Mal länglich zu schildern. Zu zentral ist dieses Aufeinandertreffen im jungen Fußballerleben der Boatengbrüder, zu gut lassen sich daran der unterschiedliche Werdegang und die unterschiedlichen Wesenszüge festmachen. Horeni erzählt jedoch noch mehr.
Mehrmals hat er sich mit George Boateng getroffen, dem älteren Bruder der beiden Profifußballer. Zumeist im Berliner Bezirk Wedding, wo Kevin und George aufgewachsen sind und wo sie in einem „Käfig“ an der Panke zusammen mit ihrem in Wilmersdorf lebenden Halbbruder Jerome das Fußballspielen von der Pike auf gelernt haben. Jerome ist das Kind aus einer anderen Beziehung des aus Ghana stammenden Vaters, und Horeni analysiert die Beziehung der drei zueinander, zu ihrem Vater und zu ihren jeweiligen deutschen Müttern. Er erzählt die Vorgeschichte des Vaters. Und wie der große Bruder auch Jerome unter seine Fittiche nimmt, selbst aber mit seinem Leben, wiewohl als Fußballer über die Maßen talentiert, kaum zu Rande kommt. Und Horeni hat die Weddinger Schulen der Boatengs besucht, sich mit Lehrern der Wilhelm-Hauff-Schule und der heutigen Erika-Mann-Grundschule unterhalten, genauso wie mit ehemaligen Jugendtrainern, die die beiden jüngeren Boatengs bis in die Profimannschaft von Hertha BSC begleiten (was tief in den bis vor einigen Jahren extrem amateurhaft geführten Jugendbereich von Hertha BSC blicken lässt).
Die Geschichte der Boatengbrüder ist eine durchaus exemplarische für ein Land, das zwar schon lange ein Einwanderungsland ist, genau das aber erst seit ein paar Jahren überhaupt zur Kenntnis nimmt. Nicht zuletzt aufgrund einer Fußballnationalmannschaft, in der neben Jerome Boateng zum Beispiel auch der tunesischstämmige Sami Khedira, der türkischstämmige Mesut Özil oder die polnischstämmigen Miroslav Klose und Lukas Podolski spielen. Horeni bezeichnet sie als die „Internationalmannschaft“. Die „drei deutschen Karrieren“, wie Horenis Buch im Untertitel heißt, müssten im Einwanderungsland Deutschland eigentlich typisch sein. Und doch ist zum einen die Bruderkonstellation eine außergewöhnliche: der parallele Erfolgsweg des eigensinnigen, impulsiven, nicht immer umsichtig handelnden und denkenden Kevin und des eher schüchtern-angepassten, aber zielstrebigen Jerome.
Zum anderen aber gibt es die Hindernisse, die sich den Boatengs in den Weg gestellt haben, die allzu bekannten, allzu großen: die Schwierigkeiten, einem sozialen Brennpunkt wie der Gegend um die Weddinger Pank- und Badstraße unbeschadet zu entkommen. Was etwa George Boateng nur mit Mühe gelang, er ist heute Hundezüchter und lebt in Reinickendorf. Und die rassistischen Anfeindungen, denen sich die Brüder bis zu ihren Wechseln in die englische Liga nach Tottenham (Kevin) und Manchester (Jerome) von Jugend an ausgesetzt sahen.
Der Hintergrund von Michael Horenis lesenswerter Mischung aus ( wenn gleich mitunter etwas einfach gestricktem) Psychogramm, Gesellschaftsporträt und Fußballerbiografie ist natürlich die Sarrazin-Debatte. Die wurde zwar erst nach der WM 2010 geführt, gärt aber weiter. Ein Ende scheint nicht in Sicht.
Genauso wenig wie ein Ende der Boateng-Karrieren. Während der inzwischen bei Bayern München spielende Jerome um seinen Stammplatz in der Nationalmannschaft kämpft, auch jetzt bei der EM, hat Kevin-Prince vor einigen Monaten angekündigt, nicht mehr für Ghana antreten zu wollen und sich ganz auf seinen augenblicklichen Verein zu konzentrieren, den AC Mailand.
Horeni kommentiert das mit den Worten: „Man muss sich nicht wundern, wenn er bei der WM 2014 in Brasilien für die ’Black Stars’ aufläuft. Ghana wird Kevin auch dann noch gut gebrauchen können, und Kevin wird die Weltmeisterschaft gebrauchen können.“ Das Schönste am Fußball ist schließlich: Er produziert ohne Unterlass neue Geschichten, und von den Boatengs dürfte es in Zukunft noch einige geben.
Michael Horeni: „Die Brüder Boateng. Drei deutsche Karrieren.“ Tropen Verlag, Stuttgart 2012, 268 Seiten, 19,90€.
Buchvorstellung heute, 19 Uhr, mit Michael Horeni, George Boateng und Jerome Boateng, Bibliothek am Luisenbad, Travemünder Str. 2/Ecke Badstraße.