WM 2014: Brasilien und der Heimvorteil: "Deutschland darf sich nicht beeindrucken lassen"
Wie entscheidend ist im Halbfinale der Heimvorteil für Brasilien? Wie wichtig sind Coolness und Leidenschaft? Und was bedeutet der Ausfall von Neymar für die Nationalelf? Der Mentaltrainer Steffen Kirchner im Interview.
Herr Kirchner, wie groß ist der Faktor Heimvorteil für Brasilien im Halbfinale?
Ziemlich groß. Es gibt eine kinesiologische Übung, die ich mit Mannschaften manchmal mache: den Armtest. Einer streckt den Arm aus, ein anderer versucht ihn herunterzudrücken. Wenn man auf etwas Negatives blickt oder an etwas Negatives denkt, dann hat man überhaupt keine Chance, den Arm oben zu halten. Wenn man auf etwas Positives schaut oder positive Gedanken hat, dann ist dieser Arm extrem stark. Der Test funktioniert sogar indirekt, wenn Menschen im direkten Umfeld auf Anweisung positiv oder negativ über diese Person denken.
Warum ist das so?
Das ist wissenschaftlich hundertprozentig nachweisbar und erklärbar. Es gibt wohl irgendwie die Möglichkeit, Umfeldeinflüsse unterbewusst wahrzunehmen. So entsteht unter anderem der Heimvorteil. Wenn in einem Stadion 50 000 Leute für mich sind, spüre ich diese Energie.
Tränen und Gebete – während der Brasilienspiele herrschen fast schon religiöse Zustände. Sind diese überbordenden Emotionen Stärke oder Schwäche Brasiliens?
Die Brasilianer leben stark von ihrem Stolz und ihren Emotionen. Aber wie sie die ganze Sache diesmal spirituell aufladen, das hat tatsächlich mit reinen Emotionen nur noch wenig zu tun. Ihr Glaube ist so eine tiefe Kraftquelle für die Brasilianer, das trägt und stärkt sie. Über den Geist holen sie die letzten Prozente heraus, auch wenn der Körper gar nicht mehr kann. Das ist der Zustand, den jeder Marathonläufer kennt, der sogenannte Runner’s High, an dem man nur noch übers Mentale läuft.
Und welche Schwäche könnte das deutsche Team hier nutzen?
Wo der Glaube ist, ist auch schnell der Aberglaube. Wenn es mal nicht so gut läuft, glauben die Brasilianer wie andere südamerikanische Mannschaften schnell an eine Verschwörung. Die Götter sind gegen uns, der Schiedsrichter, die Fifa. Irgendwann verlieren sie den Spaß, da sind sie bestimmt instabiler als die deutsche Mannschaft. Genau so kann man die Brasilianer auch ärgern: über harte Arbeit und komplette Kompromisslosigkeit.
Den Emotionen der Brasilianer sollte das deutsche Team emotionslos begegnen?
Leidenschaft muss schon da sein. Aber ich würde nicht mit den Brasilianern das Spiel der Emotionen spielen, das können sie besser. Die Deutschen haben andere Stärken, sie sind härter, stärker, breiter aufgestellt und haben eine andere individuelle Qualität.
Wie sähe Ihr mentaler Matchplan im Hexenkessel von Belo Horizonte aus?
Die Deutschen dürfen sich nicht beeindrucken lassen, keine emotionalen Diskussionen anfangen und müssen Provokationen ignorieren. Sie dürfen auch nicht zu schnell die Entscheidung suchen, der Druck wird für die Brasilianer mit jeder Minute exponentiell größer. Im Endeffekt muss das deutsche Team quasi maschinell, diszipliniert und taktisch klug spielen. Cool bleiben, zuschlagen – und weg.
Welche deutschen Spieler sind Ihrer Meinung nach dafür besonders geeignet und welche nicht? Jerome Boateng gilt als mentaler Wackelkandidat.
Ja, das ist so. Er ist zwar mittlerweile sehr erfahren, aber man muss ihm ein paar Sätze mit auf den Weg geben. Er muss sich konkret als Ziel vornehmen, cool zu bleiben. Über Mesut Özil würde ich jetzt ernsthaft nachdenken. Er ist emotional angeschlagen und der größte Wackelkandidat. Rein sportpsychologisch ist so jemand in so einem Spiel nicht die erste Wahl. Aber Schweinsteiger, Lahm, Müller, Khedira, das sind alles coole Jungs. Das ist unsere Stärke.
Ist diese Coolness stärker als Brasiliens Glaube?
Ohne Glaube geht nix, aber er allein kann keine Berge versetzen. Das ist eine große Motivationslüge. Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem der größte inspirierte Geist am Ende ist mit seinen Kräften – und dann punkten harte Faktoren wie individuelle Fähigkeiten und Geschlossenheit. Der Glaube allein reicht nicht, auch nicht bei den Brasilianern.
Ist es psychologisch ein Vorteil für Löws Elf, dass in Neymar und Thiago Silva Brasiliens wichtigste Spieler fehlen?
Das Spielerisch-Taktische müssen andere beurteilen. Aber emotional und mental ist der Ausfall von Neymar ein ganz klarer Nachteil für Deutschland. Weil die Solidarität der Fans und der Nation mit der Mannschaft noch einmal deutlich gestärkt worden ist. Dazu kommt die Art und Weise seines Ausfalls, die als große Ungerechtigkeit empfunden wird. Man wird ihn rächen wollen.
Die Deutschen haben den Ausfall von Neymar öffentlich bedauert und die Brasilianer vor dem Spiel auch sonst verbal umschmeichelt. Ist das Taktik?
Natürlich, das ist absolut clever. Das ist kalkulierter Respekt, ein Teil der Wettkampfstrategie. Wie gesagt, das hat fast religiöse Dimensionen, und wir wissen, was passiert, wenn man Gläubige angreift. Da schaffe ich nur noch mehr Stärke und Widerstand beim Gegner. Die bessere Strategie ist, ihn quasi zu Tode zu loben. So bestätigt man ihn zwar verbal, entnervt ihn aber mit der eigenen Härte und Coolness. Loben Sie Ihren Gegner beim Tennis mal, wenn er einen Schlag nicht trifft: „War aber eine gute Idee.“ Das macht einen irgendwann wahnsinnig.