Fußball-WM 2018: Müde? Hochnäsig? Zerstritten?: Deutschland bekommt die Quittung
Für Deutschlands Ausscheiden in der Vorrunde gibt es viele Erklärungsansätze. Eine Problemanalyse.
An der Körpersprache war diesmal wirklich nichts auszusetzen. Der Körper von Mesut Özil sprach klar und deutlich, er nuschelte nicht, seine Aussagen gaben auch keinen Anlass, nach irgendwelchen Zwischentönen zu suchen. Özil bog um die Ecke, wo die Journalisten warteten, er blickte mit grimmiger Entschlossenheit an ihnen vorbei, und sein Körper schrie ihnen entgegen: Sprecht mich bloß nicht an! „Mesut!“ rief einer. „Herr Özil!“, ein anderer. „Wenigstens jetzt.“ Es könnte sein, dass das ein Witz gewesen war.
Mesut Özil sprach auch nach der 0:2-Niederlage der deutschen Nationalmannschaft gegen Südkorea und dem Vorrundenaus bei der WM nicht – so wie er es in all den 45 Tagen gehalten hat, seitdem die Partei des türkischen Präsidenten Erdogan das Foto eines intimen Zusammentreffens mit Özil und zwei weiteren Fußballern zu Wahlkampfzwecken veröffentlicht hatte. Das Thema hing vor und während der Weltmeisterschaft wie eine dunkle Wolke über der deutschen Mannschaft, und es steht zu befürchten, dass es den Deutschen Fußball-Bund (DFB) auch nach der WM noch eine Weile begleiten wird.
Mesut Özil ist schuld, ganz einfach. Allein seine Körpersprache… Dass er mit derselben Körpersprache Weltmeister geworden ist, dass er mit derselben Körpersprache gut genug war für Real Madrid, dass er gegen Südkorea die meisten Torschüsse vorbereitet, drei herausragende Chancen eingeleitet hatte und von allen deutschen Offensivspielern auf dem Platz der einzig gute gewesen war: Ach, geh! Sind doch bloß Fakten! In vielen Zeitungen bekam Özil für seinen Auftritt in Kasan die politisch motivierte Note sechs. Und die Geisterfahrer von der AfD wussten natürlich auch, dass es ohne ihn anders ausgegangen wäre – wenn nämlich der Defensivmann Sebastian Rudy auf seiner Position im offensiven Mittelfeld gespielt hätte. Ein Spieler, der gar nicht hätte spielen können, weil er verletzt war. Mehr muss man über das Niveau der Debatte nicht wissen.
Es ist mehr als billig, die beiden Gelsenkirchener Mesut Özil und Ilkay Gündogan für das frühe Scheitern des Titelverteidigers verantwortlich zu machen. Ganz falsch ist es nicht. „So wie der Erfolg nicht von einem einzigen Punkt abhängt, ist es auch bei Misserfolg nicht so“, sagte Oliver Bierhoff, der Manager der Nationalmannschaft. „Es werden schon mehrere Punkte sein, die zusammenkommen.“ Der verstörende Auftritt in Russland hat viele Gründe, und die Dauerdiskussion um das Treffen der Nationalspieler Özil und Gündogan mit Erdogan und der unbeholfene Umgang mit der Kritik daran ist sicher einer davon.
Im letzten Spiel wurde mindestens in den Medien dann eine Stimmung verbreitet, die dazu einlud, Südkorea vollkommen zu unterschätzen. Da brauche ich keinen Jogi Löw für, sondern das Team hinter dem Team. Diejenigen, deren Job die Gegnerbeobachtung und Einschätzung ist, haben ein erbärmliches Bild abgegeben.
schreibt NutzerIn ThomasM
Der DFB inklusive Bundestrainer Joachim Löw hat die Dimension des Themas komplett unterschätzt. Dass sich gerade die, die sonst am lautesten gegen eine freie und demokratische Gesellschaft hetzen, als Verteidiger einer freien und demokratischen Gesellschaft gegenüber Erdogan aufspielten, zeigt zwar die Verlogenheit der Debatte. Aber der DFB hat es eben versäumt, dieser Debatte zeitig die Geschäftsgrundlage zu entziehen, indem er das Schweigen von Özil und Gündogan einfach toleriert hat. „Wenn du Weltmeister bist, musst du dich mit vielen Dingen auseinandersetzen, die mit dem Fußball gar nichts zu tun haben“, hat Thomas Müller nach der Niederlage gegen Südkorea gesagt. „Störfeuer werden von außen auch gerne genommen. Jetzt haben wir die Quittung bekommen.“
Einige Störfeuer
Störfeuer gab es einige: die Debatte um das seelische Wohl in Watutinki, vermeintliche atmosphärische Spannungen im Team, die erratische Suche des Bundestrainers nach einer verlässlichen Stammelf. Jedes für sich wäre vielleicht beherrschbar gewesen, aber mit dieser Ballung an echten, eingebildeten und selbst gemachten Problemen wäre vermutlich jede Mannschaft überfordert gewesen. Erst recht aber eine Mannschaft, die keine war. „Es haben viele Dinge nicht zusammengepasst, ohne dass man alles ganz genau beziffern kann“, sagte Mats Hummels, der das frühe Ausscheiden als „die sportlich größte Enttäuschung meines Lebens“ empfand.
An einem der ersten Tage in Watutinki saß Toni Kroos im DFB-Medienzentrum auf der Bühne. Die Journalisten hatten sich ein erstes Bild von der malerischen Idylle der Plattenbauvorstadt gemacht, der Bundestrainer dem Basisquartier den Charme einer Sportschule zugesprochen. Kroos wiegelte ab. Es sei alles so weit in Ordnung. „So ist die Vorfreude auf einen möglichen Urlaub noch größer“, sagte Kroos. Alle lachten. Jetzt, nach Südkorea, erfährt der Satz eine ganz andere Deutung.
Das Spiel der Nationalmannschaft hatte in Russland ebenfalls den Charme einer Sportschule, aber den einer Sportschule aus den achtziger Jahren. „In keinem unserer drei Spiele hat man gesehen, dass da wirklich eine deutsche Mannschaft auf dem Platz stand, vor der man Respekt hat“, sagte Kapitän Manuel Neuer. Ja, er sprach von der Mannschaft, die bei großen Turnieren mal der Schrecken des Weltfußballs war und gegen die jetzt laut Neuer im Achtelfinale jeder gerne gespielt hätte. Diesen Gefallen konnten die Deutschen den Brasilianern leider nicht tun – die müssen jetzt gegen Mexiko ran. „Wir haben in den drei Spielen ein schlechtes Bild abgegeben“, sagte der Torhüter. „Wir waren zu langsam, konnten dem Gegner nie richtig wehtun. Alles war zu lethargisch.“
Dem Team fehlte erkennbar die Führung, von innen und außen. „Ich habe alles, was körperlich und mental da war, reingeworfen“, sagte Kroos, dem die Führungsrolle eigentlich zugedacht war, der ihr aber nur in der zweiten Halbzeit gegen Schweden gerecht geworden war. „Ich habe wie immer versucht, der Mannschaft mit meiner Spielweise so gut es geht zu helfen“, sagte er. Es hörte sich an wie: Hat sich stets bemüht.
Auch das Spiel wirkte bemüht, unausgegoren, träge. „Ich sag jetzt nicht: Es hat sich angekündigt“, sagte Kroos. „Aber wenn man sieht, wozu die Mannschaft in der Lage sein sollte und was wir gezeigt haben, dann waren wir zu keiner Zeit richtig im Turnier.“ Nach außen haben die Spieler immer so getan, als wüssten sie genau, was auf sie zukommt – Gegner nämlich, die gegen den Weltmeister mit noch mehr Lust antreten, so wie die Koreaner, die am Ende keine Chance mehr aufs Weiterkommen hatten und das späte 2:0 trotzdem feierten wie einen Titel. Die Deutschen hätten Leidenschaft dagegen setzen müssen und entschieden sich für Routine. „Wir haben schon erkannt, wo die Probleme lagen“, sagte Mittelfeldspieler Sami Khedira. „Aber die Nationalmannschaft war in den letzten Jahren immer im Halbfinale. Darauf haben wir uns vielleicht ein Stück weit zu sehr verlassen.“
Wie eine schlechte Kopie
Das letzte Gegentor im Turnier wirkte wie eine schlechte Kopie des ersten Gegentors im Spiel gegen Mexiko: Ballverlust in der gegnerischen Hälfte, schnelles Umschalten, bei dem die Deutschen nicht mehr mitkamen. Es hatte allerdings eine ironische Note, dass es der weit aufgerückte Torhüter Neuer war, der den Ball vertändelte. Im Laufe der WM war immer wieder zu hören: Ausgerechnet an dem Spieler, um den man sich vor dem Turnier am meisten gesorgt hatte, liegt es am wenigsten. Man muss die Leistung von Manuel Neuer nicht überhöhen, dazu ist er insgesamt zu wenig gefordert worden. Er hat es gut gemacht, trotzdem war Löws frühe Festlegung auf ihn und gegen den Weltklassetorhüter Marc-André ter Stegen insofern ein fatales Signal, als es zeigte, dass es dem Bundestrainer weniger um Leistung ging als um alte Verdienste. So sah seine Mannschaft im ersten Gruppenspiel dann auch aus.
Vor einem Jahr schienen für Joachim Löw und den deutschen Fußball paradiesische Zustände anzubrechen. Der Weltmeister hatte auch noch den Confed-Cup gewonnen, mit einer jungen, unverbrauchten Mannschaft. Doch der vermeintliche Vorteil erwies sich bei der WM als Nachteil. Löw schaffte es nicht, aus zwei Mannschaften eine zu formen. Das Team wirkte wie falsch zusammengeschraubt, als hätte sich der Bundestrainer nicht für das Beste zweier Welten entschieden, sondern für das Schlechteste. Der stete Wechsel bei den Aufstellungen tat ein Übriges. „Es ist peinlich, dass wir in einer solchen Gruppe mit einem solchen Kader und solchen Ansprüchen als Letzter ausscheiden“, sagte Thomas Müller. „Wir stehen mit heruntergelassenen Hosen da.“
Die Deutschen sind jetzt erst einmal aus dem Paradies vertrieben worden. Und anzuziehen haben sie auch nichts.