England-Trainer Roy Hodgson: Der vernünftige Revolutionär
Roy Hodgson hat in seiner bisher zwei Jahre währenden Amtszeit als Nationaltrainer ein Wunder geschafft: Er hat die sonst traditionell hohen Erwartungen und die Selbsteinschätzungen von Team und Fans zum Realismus geführt.
England wirkt in diesen Tagen ziemlich unenglisch. Die WM geht los, und trotzdem redet man in England weder von Gottes Gnade, die man für den langersehnten zweiten Titel bräuchte, noch von einer bevorstehenden Demütigung des nationalen Stolzes aus Elf-Meter-Distanz. In England redet man im Moment vernünftig über die WM-Chancen.
Man redet von einer schwierigen Gruppe. Man redet von einer Mannschaft in einer Aufbauphase. Man ist bereit, einen Viertelfinaleinzug als Riesenerfolg zu bezeichnen. Man redet so vernünftig, dass man fast um den Nationalcharakter fürchten könnte. Ruft doch mal den Palast an. Die Queen kann dead sein: von der fußballerischen Vernunft getötet.
Ein Mann trägt für diese Verwandlung die Verantwortung: Roy Hodgson hat in seiner bisher zwei Jahre währenden Amtszeit als Nationaltrainer ein Wunder geschafft: Er hat die Erwartungen und die Selbsteinschätzungen des Teams und der Fans zum Realismus geführt.
In England herrscht mittlerweile der Pessimismus
Sein Meisterwerk zeigt sich überall. Neulich hat beispielsweise eine Studie gezeigt, dass englische Fans die pessimistischsten aller WM-Länder sind. Das steht im merkwürdigen Gegensatz zur nationalen Einstellung von vor vier Jahren. Damals glaubte man immer noch an die Zugehörigkeit zur Elite des internationalen Fußballs. Während England in Bloemfontein von den Deutschen gedemütigt wurde, merkte der BBC-Kommentator völlig ernst an, dass „nur ein Paar dieser Deutschen wirklich in der englischen Startelf stehen könnten“. Damals herrschte im Land noch die Meinung, dass Erfolg für England zu erwarten, nicht zu erarbeiten wäre.
Als Hodgson 2012 von Fabio Capello übernahm, war er unpopulär. Gerade das hat ihn aber erfolgreich gemacht. Sein Name, seine langweilige Vernunft und seine lächerliche Stimme bauten sofort viele Erwartungen ab. Diesen Vorteil baute er sofort aus. Er strich angeblich unverzichtbare und legendäre Spieler wie John Terry und Rio Ferdinand aus dem Kader, setzte hingegen auf die Jugend und unglamouröse Spätentwickler wie Ross Barkley und Rickie Lambert. Aber am wichtigsten ist: In Bezug auf Englands WM hat er niemals das Wort „Favorit“ benutzt. Die Folge sind nicht nur niedrigere Erwartungen, sondern auch eine viel gesündere Mannschaft. Den alten Kult um einzelne Stars gibt es nicht mehr, sondern einen spürbaren Mannschaftsgeist und damit eine taktische Flexibilität. Am Samstag gegen Italien will Hodgson Danny Welbeck als Zehner aufstellen, wenn dieser fit ist, weil der besser nach hinten arbeiten kann, um Andrea Pirlo auszuschalten. Im Spiel gegen Uruguay dürfte Liverpools Raheem Sterling für Welbeck spielen, weil er im Angriff gefährlicher ist.
Schwere Vorwürfe, gelassene Reaktionen
Roy Hodgson ist kein Pessimist. Letztlich sprach er auch von seinem Optimismus vor dem Italien-Spiel. Er ist auch nicht komplett fehlerlos. Er hat von der berüchtigt gnadenlosen englischen Presse in den letzten Jahren auch viel Kritik einstecken müssen. Von taktischer Rückständigkeit bis Rassismus ist ihm schon alles vorgeworfen worden. Auf jeden Vorwurf reagiert er ruhig, vernünftig und überzeugt. Wie der „Independent“ es formulierte: Dieser Ansatz hat ihm keine Bewunderung, aber viel Respekt eingebracht.
Hodgson wird wegen seiner Vernunft oft verspottet. Diese Woche hat ihn ein Boulevardjournalist besorgt nach den Nebenwirkungen der Malariatabletten, die die Spieler in Manaus nehmen müssen, gefragt. Jeder wusste was kam: Hodgson antwortete ruhig: „Es ist mir lieber, dass die Spieler Kopfschmerzen haben, als Malaria“.
Das nennt man auf Englisch „Common Sense“. Gesunder Menschenverstand. Etwas, das um die englische Nationalelf traditionell fehlte.
„Die Geschichte des englischen Fußballs gegenüber anderen Nationen ist die Geschichte einer enormen Souveränität, die durch Dummheit, Kurzsichtigkeit, Selbstzufriedenheit und endlose Selbsttäuschung verschwendet wird“, schrieb Brian Glanville 1953 über das Mutterland des Fußballs. Der Satz ist deshalb legendär, weil er den englischen Fußball auch in jedem Jahr seither perfekt erfassen würde.
Bis auf 2014, vielleicht. Denn Roy Hodgson ist clever, langsichtig und selbstkritisch. Im Kontext des englischen Fußballs ist das revolutionär.