Kolumne: Meine Champions League: Der verhinderte Held von Atlético Madrid
Luis Aragones hätte Atlético Madrid gegen den FC Bayern München 1974 fast triumphieren lassen. Nicht nur deshalb ist er eine Legende seines Klubs.
Das Tor von Luis ist immer ein bisschen zu kurz gekommen, weil da noch ein anderes war. Das erste und einzige, das Hans-Georg Schwarzenbeck für den FC Bayern München im Europapokal erzielt hat, jener Verteidiger, den sie alle nur Katsche nannten und der die Mittellinie eigentlich nur zum Seitenwechsel überqueren durfte. 15. Mai 1974 in Brüssel: Die Bayern stehen zum ersten Mal im Endspiel um den Europapokal der Landesmeister, aber sie liegen 0:1 gegen Atlético Madrid zurück, und es läuft ein letzter Angriff in der letzten Minute der Verlängerung. Beckenbauer weiß nicht wohin mit dem Ball und gibt ihn Schwarzenbeck. Schwarzenbeck weiß nicht wohin mit dem Ball und schießt ihn ins Tor. Einfach so, aus 30 Metern. Weil sich die Erfindung des Elfmeterschießens 1974 noch nicht überall herumgesprochen hat, gibt es zwei Tage später ein Wiederholungsspiel, das die Bayern leicht und locker 4:0 gewinnen. Und keiner redet mehr von Luis.
Im Estadio Vicente Calderón lebt Luis Aragones fort
Luis heißt eigentlich Luis Aragonés, aber das ist selbst in Spanien weitgehend unbekannt. Vor zwei Jahren ist er gestorben und lebt doch fort auf den Rängen des Estadio Vicente Calderón. Woche für Woche singen sie dort sein Lied, und besonders laut werden sie es am Mittwoch anstimmen, wenn es im Halbfinale der Champions League mal wieder gegen die Bayern geht. Das Finale 1974 im Brüsseler Heysel-Stadion war sein letztes von insgesamt 265 Spielen für Atlético. Das letzte seiner 123 Tore hatte er im vorletzten Spiel erzielt. Jenes, an das sich heute keiner mehr erinnern kann, weil ihm Schwarzenbeck dazwischengrätschte.
Es ist ein schönes, ein typisches Luis-Tor, sechs Minuten vor dem Ende der Verlängerung eines nicht ganz so schönen Finales. Freistoß für Atlético am linken Strafraumeck. Luis legt sich den Ball in aller Ruhe hin, er läuft ein wenig gebückt an und zirkelt den Ball mit dem rechten Fuß in die linke Ecke, die so genannte Torwart-Ecke, wo Sepp Maier alles unter Kontrolle wähnt. Maier unternimmt nicht mal den Versuch eines Sprungs, weil er weiß, dass da nichts zu machen ist. Luis reißt die Arme schon hoch, bevor der Ball das Netz ausbeult. Und Atlético wähnt sich als Europapokalsieger.
Der Rest der Geschichte ist bekannt und verbindendes Element zu Diego Simeone, dem Luis der Neuzeit. 40 Jahre nach dem Drama von Brüssel steht Atlético im Mai 2014 im Finale der Champions League, diesmal gegen den Stadtrivalen Real. Die 1:0-Führung hält bis in die Nachspielzeit, dann ist es wieder ein Verteidiger, der Atlético aus allen Träumen reißt. Sergio Ramos trifft per Kopf zum 1:1, in der Verlängerung schießt Real drei weitere Tore. Atlético scheitert ein zweites Mal tragisch, der Argentinier Simeone verspricht trotzig einen neuen Anlauf.
Diego Simeone und Luis Aragonés haben sich knapp verpasst bei Atlético. Als der Mittelfeldspieler Simeone im Sommer 2003 nach Madrid kam, hatte der Trainer Aragonés gerade sein viertes Engagement im Vicente Calderón beendet. Einmal hat er mit Atlético die Meisterschaft gewonnen und dreimal den spanischen Pokal, aber sein größter Triumph war jener Sieg 2008 im Europameisterschaftsfinale von Wien über Deutschland.
Das Atlético von 1974 war wie das heutige von Diego Simeone
Als Nationaltrainer hat Luis die Welt auf zweierlei Weise verblüfft. Erstens mit seinen Umgangsformen, sie waren nicht immer mehrheitsfähig. Im politisch korrekten dritten Jahrtausend kam es nicht so gut an, als Luis etwa einem Spieler befahl, er solle „den scheiß Schwarzen ausschalten“ (gemeint war der Franzose Thierry Henry). Aber in diesem Ton sprechen sie nun mal in den proletarisch geprägten Vororten Madrids, und niemand wäre auf die Idee gekommen, Aragonés einen Rassisten zu nennen. Überraschender noch aber war, zweitens, der Fußball, den er spielen ließ. Luis war es, der das Kurzpassspiel aus Barcelona in die Selección transplantierte. Und das zu einer Zeit, als die Señores Xavi und Iniesta bei Barça keineswegs Hauptdarsteller waren. So aufregend wie unter dem Zausel aus Hortaleza hat Spanien auch unter dem Weltmeistertrainer Vicente des Bosque nicht mehr gespielt.
Dieses Verdienst bleibt, und es gewinnt noch an Größte, wenn man berücksichtigt, dass Luis eigentlich für einen ganz anderen Fußball stand. Sein Atlético war wie das heutige von Diego Simeone. Straßenkampf in kurzen Hosen. Atléticos Stil mit seinen überfallartigen Angriffen wirkt so mitreißend, dass dabei auch die vielbeinige Verteidigungsarbeit gern in Kauf genommen, ja als unverzichtbarer Teil des Gesamtpakets empfunden wird. Luis hat das gefallen, in seinen Lebensjahren definierte er sich als oberster Fan mit dem Bekenntnis: „Atlético ist mein Leben.“
Nach seinem Tod im Februar 2014 ehrten sie ihn im Vicente Calderón passend zu seiner früheren Trikotnummer mit acht Schweigeminuten. Zum Abschied sprach Diego Simeone: „Luis wird stolz sein auf Atlético!“ In diesem Sinne wollen sie am Mittwoch die Bayern besiegen und weiterziehen zum Finale nach Mailand, wo am 28. Mai vollendet werden soll, was Luis verwehrt bleib. Damals, im Mai 1974 in Brüssel, als ihm Katsche Schwarzenbeck dazwischen grätschte.