EM-Finale gegen Frankreich: Der Sieg Portugals - Triumph einer Idee
Der erste große Fußballtitel zeigt die Kraft des neuen, internationalen Portugals – und das gewaltige Erbe der unseligen Kolonialzeit.
Später in der Nacht verrät Eder ein kleines Geheimnis. Eder heißt eigentlich Ederzito Antonio Macedo Lopes, aber das weiß kaum einer in Portugal und erst recht niemand in Paris. Seit Sonntag aber kennt ihn ganz Europa, nach seinem Tor zum 1:0-Sieg im Finale der Europameisterschaft gegen Frankreich. Es war ein Schuss aus gut 20 Metern, und das besondere daran war, dass Cristiano Ronaldo ihn angekündigt hatte. Als die Verlängerung begann und Ronaldo aus der Kabine humpelt, um seine Kollegen zu herzen, bleibt er bei Eder kurz stehen und sagt: „Du schießt heute unser Siegtor!“
Eine Feier nach der Befreiung von Diktator Salazar
So erzählt es Eder in der Nacht von Saint-Denis, und Ronaldo bestätigt ihn. „Ich bin kein Hexer, aber ich wusste, dass Eder dieses Tor schießen würde“, sagt Ronaldo. „Und genau das hab ich ihm auch gesagt. Ich freue mich wahnsinnig für ihn.“ Es ist ein schönes Tor, erzielt in der zweiten Halbzeit der Verlängerung. Frankreichs Verteidiger Samuel Umtiti greift noch nach Eder, aber der schlägt ihm im Vorwärtsmarsch auf die Finger, legt sich den Ball zurecht und jagt ihn flach ins linke Eck.
Portugal feiert die Nacht so exzessiv wie zuletzt die Befreiung vom Diktator Salazar, und die liegt jetzt auch schon gut 40 Jahre zurück. Es ist eine grün-rote Nacht in Paris. Vom Stade de France am nördlichen Stadtrand bis zu den Champs Élysees im Zentrum zieht sich ein ohrenbetäubender und über Stunden währender Autokorso, alles hupt und schreit „Portugal olé!“, aus den Fenstern flattern Fahnen. Die Wirtschaftskrise daheim hat die Portugiesen nach ganz Europa verstreut, allein in Frankreich leben 1,3 Millionen Menschen mit portugiesischen Wurzeln. Jetzt macht das internationale Portugal Party.
Wer kann Eder jetzt je vergessen?
Es ist moderner, ein anderer Internationalismus, als ihn das alte Portugal angestrebt hat. Die Diktatur ist damals am Kampf gegen die Kolonien in Übersee zerbrochen, und auch in diesem Sinne ist das eine schöne Geschichte mit Eder. Der Mann kommt aus Guinea-Bissau, und dass er trotzdem Portugal im Herzen trägt, darf wohl als postkoloniale Errungenschaft dieses kleinen Landes im Südwesten Europas gewertet werden.
Eder geht mit seinen 28 Jahren schwerlich als Talent durch, er hat in Coimbra gespielt, in Braga, Swansea und zuletzt in Lille, alles keine Top-Adressen, und auch in der Nationalmannschaft ist er nur eine Notlösung, wenn überhaupt. Im Finale kommt er elf Minuten vor Schluss für den erschöpften Neu-Münchner Renato Sanches ins Spiel, zum vierten Mal als später Einwechselspieler, und viel ist bis zum Sonntag nicht von ihm in Erinnerung geblieben. Aber wer kann ihn jetzt je vergessen? Als Urheber dieser Sensation, die Europa noch eine Weile beschäftigen wird.
Mit Ronaldo litt ganz Europa
Die Sensation ist ja gar nicht so sehr der Sieg der Portugiesen über Frankreich. Portugal verfügt über eine sehr gute Mannschaft mit sehr guten Individualisten, aber der beste von ihnen ist nun mal Cristiano Ronaldo. Nicht ganz so viele Fans jenseits von Portugal lieben ihn, aber am Sonntagabend hat wohl ganz Europa mit ihm gelitten. Wie er schon in der Anfangsphase des Spiels vom französischen Filigran Dimitri Payet umgetreten wird, auf unangenehmste Weise mit einem Check ins linke Knie, den der englische Schiedsrichter Mark Clattenburg nicht mal mit einem Freistoß ahndet. Das Drama um Ronaldo zieht sich zwanzig Minuten lang hin. Dreimal wird er an der Seitenlinie behandelt, dreimal versucht er mit schweren Schritten ein Comeback, aber es geht nicht mehr.
Ronaldo weint, das macht er bei Real Madrid nie, und wer es bisher nicht glaubte, der weiß es jetzt: Dieser Mann liebt sein Land. Ronaldo hat so viel für Portugal getan, an diesem Sonntag tut Portugal mal etwas für ihn. Es gewinnt für einen herausragenden Patrioten ein Spiel, das kaum zu gewinnen ist. Ist diese Geschichte nicht viel schöner als die vom mäßigen Niveau eines mäßigen Finales einer mäßigen Europameisterschaft?
Frankreich stürmt, hat aber keine Idee
In dieser Nacht zeigt Portugal, dass es mehr ist als Ronaldo. Und Ronaldo ist mehr als der arrogante Schnösel, für den ihn viele halten. „Portugal hat das verdient, hinter uns liegen so viele Jahre voller Opfer“, sagt er später. „Es ist einer der glücklichsten Tage meines Lebens, ich werde ihn nie vergessen.“
Frankreich träumt nach Ronaldos Ausfall von einem leichten Sieg, Frankreich stürmt auch, aber hat keine Idee. Und Portugal glaubt. An sich selbst und an die Kraft des Augenblicks, an die Möglichkeit, den größten Erfolg in der Fußballgeschichte der kleinen Nation auch ohne seinen Weltstar möglich zu machen. In der Pause vor der Verlängerung humpelt Ronaldo zurück auf den Rasen. Er herzt alle Kollegen. Bei Eder bleibt er stehen.
Für die Seleção ist Portugal mehr als ein Staatsgebilde
Eder galt mal als Talent, aber die Heimat hatte ihn schon vergessen, als er in der Premier League für Swansea kein einziges Tor schoss und abgeschoben wurde nach Lille, wo seine Quote mit sechs Toren in 13 Spielen schon sehr viel besser wurde. Eder ist ein schönes Beispiel für das neue Portugal. Für den Reichtum eines Landes, den es zugleich aus der unseligen Kolonialzeit geerbt hat. Eder steht wie der in Angola geborene Mittelfeldmann William Carvalho für die afrikanische Komponente, der großartige Innenverteidiger Pepe für das einstige Kolonialreich Brasilien, der Stürmer Nani kommt von den Kapverden, der künftige Dortmunder Raphael Guerreiro ist in Frankreich aufgewachsen, zwei S-Bahn-Stationen vom Stade de France entfernt. Guerreiro ist nach dem Spiel ein begehrter Interviewpartner bei den französischen Journalisten und nicht so sehr bei denen aus Portugal, denn Portugiesisch spricht er nur rudimentär.
Für die Interpreten der Seleção Portuguesa ist Portugal mehr als ein Staatsgebilde. Portugal ist eine Idee. Die Nationalhymne wird stets und laut von denen gesungen, die wie Eder, Pepe oder Guerreiro anderswo geboren sind. Auch und gerade für einen wie Cristiano Ronaldo, der mit Manchester United und Real Madrid schon alles gewonnen hat. Aber eben nichts mit Portugal, was Ronaldo in den vergangenen Wochen immer wieder betont hat, mit dem Zusatz, „dass wir als kleine Nation nicht unter dem Druck stehen, einen Titel zu holen“. Ronaldo ist der erste Gratulant nach der erfolgreichen Verlängerung, er humpelt auf den Platz, lässt sich von Nani die Kapitänsbinde zurückgeben und hüpft mit dem lädierten Knie herum, als hätte der Mannschaftsarzt von Real Madrid keinen Fernseher.
Ronaldo küsst den Pokal mit Leidenschaft
Egal, so einen Augenblick wird es so schnell nicht wieder geben. Ronaldo gewährt allen Mitspielern den Vortritt auf dem Weg hinauf zur Ehrentribüne. Er selbst schleicht die Treppe als Letzter hinauf, es geht nicht schneller mit dem Knie, die Kollegen winken ihn nach vor durch. Um 23.48 Uhr bekommt Ronaldo den Pokal überreicht, er küsst ihn mit einer Leidenschaft, wie man sie von ihm sonst nur beim Torjubel kennt. Eder steht hinter ihm und gleich nebenan der Verteidiger Pepe und zerrt an der Trophäe.
Ronaldo lacht und lässt den Pokal los.
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