Robert Enke: Der Schlusspfiff
„You’ll never walk alone.“ Als diese Trostworte gesungen werden, geleiten die Spieler ihren Kapitän zum letzten Mal aus dem Stadion. Hannover nimmt Abschied von Robert Enke – mit einer Trauerfeier, die bewegt und befremdet
Zwei Mädchen haben sich eingereiht in den Trauerzug, beide um die zwölf, dreizehn Jahre alt, sie tragen Fußballtrikots. Die eine wischt sich Tränen aus dem Gesicht, die andere fragt: „Warum weinst du eigentlich um den? Du hast den doch gar nicht gekannt!“
Hannover ist an diesem Sonntag das Zentrum eines Phänomens, das die Deutschen seit ein paar Tagen irritiert. Ein ganzes Land leidet seit Dienstag unter dem Tod eines Fußballtorhüters, den das halbe Land am Montag noch gar nicht kannte. Robert Enke war ein junger, höflicher Mann, er hat ein paar Mal für die Nationalmannschaft gespielt und ansonsten in der Öffentlichkeit kaum stattgefunden, weil er nicht stattfinden wollte. Er war das genaue Gegenteil des Idols, zu dem ihn das Land posthum gemacht hat. Am Sonntag nun erhält er ein symbolisches Stadionbegräbnis. Hunderte von Journalisten sind nach Hannover gereist, Fernsehanstalten übertragen in die gesamte Welt.
Warum?
Das Fußballstadion, in dem Enke noch vor einer Woche gespielt hat, ist schon Stunden vor dem Beginn der Trauerfeier gut besucht. Gut gefüllt, aber nicht komplett. Das macht es den Irritierten im Land ein wenig leichter und die gesamte Veranstaltung ein Stück sympathischer – es nimmt ihr einen Teil des Eventcharakters. Es ist eben doch nicht alles hier durchgeplant bis ins letzte Detail, es bleibt ein Rest von Spontaneität, von der Wirkung des Augenblicks.
An den Imbissbuden, dort, wo sonst Bratwürste und Bier verkauft werden, lässt Hannover 96 am Sonntag unentgeltlich Kaffee und Streuselkuchen reichen. Enkes Verein mag nicht finanziell profitieren von der Trauer. Es gibt keine Musik, keine marktschreierischen Durchsagen und Gewinnspielchen, es fehlt alles das, was den Besuch eines Fußballspiels im dritten Jahrtausend zu einer mitunter grenzwertigen Erfahrung macht.
Doch die Würde, sie lässt sich nicht überall durchhalten. Vor dem Stadion verkaufen fliegende Händler Robert-Enke-Shirts und -Schals. Die Ordner sind alle komplett in Schwarz gekleidet, einer sagt: „Das ist ja ein Andrang wie bei Bayern München.“ Die Journalisten bekommen ein Infoblatt in die Hand gedrückt, es weist sie darauf hin, dass Stellungnahmen der Prominenz nach Ende der Veranstaltung „am Drängelgitter“ einzuholen seien.
Die Stille im Stadion erfährt um 9 Uhr 45 eine erste Unterbrechung. Eine Frau kommt aus den Katakomben, gestützt von einer Freundin oder Bekannten, dieses Detail ist sekundär, denn das Publikum erkennt schnell, wer da auf dem Teppich steht, der dieses Mal kein roter ist, sondern ein schwarzer. Teresa Enke ist seit dem Tod ihres Mannes eine der bekanntesten Frauen Deutschlands und gewiss auch eine der am meisten bewunderten. Am Mittwoch, nur Stunden nach Robert Enkes Suizid, hat sie vor Kameras und Mikrofonen geredet, über die Depressionen, die ihren Mann in den Tod getrieben haben. Beifall begleitet sie auf dem Weg in den Mittelkreis, wo der Sarg aufgebahrt ist. Wie am Mittwoch bei ihrer mutigen Pressekonferenz kreuzt sie die Arme über dem Oberkörper, es ist ein symbolischer Schutz gegen das innerliche Frieren. Als sie den Sarg erreicht, wird es plötzlich ganz still. Das Publikum versteht. Frau Enke darf in einem Anflug von Intimsphäre Abschied nehmen.
Es ist dies die bewegendste Geste einer Veranstaltung, wie sie der deutsche Fußball, wie sie dieses Land noch nicht erlebt hat. Das Gespür der Fans für die Würde des Augenblicks setzt Maßstäbe. Es fällt nicht leicht, die rechte Mischung aus Andacht und Anteilnahme zu finden. Wer will Fußballfans in einem Fußballstadion schon das Applaudieren verbieten? Es ist ihr Instrument der persönlichen Teilnahme, und sie machen an diesem Tag reichlich Gebrauch davon. Diesen Kompromiss muss eingehen, wer eine Trauerfeier als Massenveranstaltung inszeniert.
Alle Werbebanden sind für diesen Tag entfernt worden, statt ihrer rahmen schwarz-weiß gehaltene Tafeln den Platz. „Wir trauern um Robert Enke.“ Nur der Hauptsponsor, ein Finanzdienstleister, ist im gesamten Oval präsent mit dem aus der Bundesliga gewohnten Slogan: „Mehr Siege, mehr Tore, mehr Netto!“ Man denkt an Oliver Kahn, auch er ein Torwart, der über Robert Enke mal sinngemäß gesagt hat, die höheren Weihen erfahre er nur bei einem Spitzenklub wie Bayern München und nicht in der niedersächsischen Provinz. Nach allem, was man heute weiß, war Hannover genau der richtige Klub. Einer, bei dem es nicht ausschließlich um mehr Siege, mehr Tore, mehr Netto ging.
Auf den Tribünen und Kurven wird im Flüsterton debattiert. Über das für die Trauergäste Unfassbare, was am Dienstag geschehen ist, nur ein paar Kilometer weit entfernt. Am Bahnübergang Neustadt am Rübenberge, wo sich Robert Enke vor einen Zug geworfen hat. Eine diffuse Angst macht sich breit. Der Tod eines Torwarts hat das Land konfrontiert mit den Dämonen, die Robert Enke verfolgten. Jeder ahnt, dass die Volkskrankheit Depression jeden treffen kann. Den Arbeitskollegen, den Sitznachbarn im Stadion, am Ende auch einen selbst.
Freunde und Kollegen fragen sich: Hätten wir nicht etwas merken müssen? Haben wir versagt? Robert Enkes Vater, ein Psychotherapeut, hat dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ anvertraut, wie er seinem Sohn immer wieder Hilfe angeboten hat. Wie er zehn Tage vor dem Suizid unangemeldet in Hannover aufgetaucht ist. Teresa Enke hat ihn vom Bahnhof abgeholt, aber als Robert vom Training nach Hause kam, hat er sich jedem Gespräch verweigert und ist früh zu Bett gegangen, den Vater hat er abgekanzelt mit der Bemerkung, er sei enttäuscht vom Verlauf des Abends. Welcher Freund, Kollege, Bekannte hätte an ihn herankommen können, wenn es der medizinisch vorgebildete Vater nicht schafft?
Als es am Sonntag um elf endlich losgeht, wirkt das auf alle im Stadion wie eine Befreiung. Die Kameraden, ein antiquiert wirkendes Wort, aber es trifft wie kein anderes, die Kameraden von der Nationalmannschaft betreten den Platz. Ganz vorn schreiten Michael Ballack und Per Mertesacker, ein Freund aus gemeinsamen Hannoveraner Tagen. Als Letzter kommt Bundestrainer Joachim Löw, schwer gezeichnet und flankiert von Jürgen Klinsmann und Oliver Bierhoff.
Nach kurzem Applaus ist es wieder so still, dass man im Unterring ein Baby schreien hört. Der Kameramann besitzt so viel Anstand, nur die Ehrengäste zu filmen und nicht die Familie Enke.
Es folgen die Reden, und nicht bei allen ist man sich sicher, ob sie denn unbedingt hätten gehalten werden müssen. Ein Pfarrer, er hat die Familie auch seelsorgerisch betreut, erzählt, dass er vor einer Woche noch auf der Tribüne gesessen und Enkes Paraden bejubelt hat. Er dankt Teresa Enke, „mit Ihrem Mut haben Sie uns die Wahrheit über den ganzen Menschen Robert Enke gezeigt“. Und: „Nicht nur Fröhlichkeit und positive Ausstrahlung machen den Menschen zum Menschen.“
Dann spricht Klubpräsident Martin Kind, er hat Mühe, sich vom Vokabular des Fußballs zu lösen. Kind rühmt Enke „als Sportler, als Leistungsträger. Als Kapitän dieser Mannschaft hat er uns viele Punkte erkämpft und in mancher Saison die Gefahr des Abstiegs gebannt“. Durchs Stadion klingt die Vereinshymne, sie reimt sich so: „In größter Not rudern wir gemeinsam im roten Fußballboot.“
Bevor man darüber nachdenken kann, ob sich Derartiges in den Geist einer Trauerfeier fügt, erlebt Hannover einen großartigen Augenblick. „Die Zeit wird vergehen, das Leben wird wieder seinen Anfang nehmen“, ruft Theo Zwanziger, der Präsident des Deutschen Fußball-Bundes. Er zitiert Hannovers Landesbischöfin Margot Käßmann und deren Satz, Fußball sei nicht alles. Nein, „Fußball darf nicht alles sein!“, sagt Zwanziger. „Denkt nicht nur an den Schein. Denkt auch an das, was im Menschen ist, an Zweifel und an Schwächen.“ Zum Schluss appelliert er an die Fans: „Ihr könnt unglaublich viel dazu tun, wenn ihr bereit seid, aufzustehen gegen Böses. Wenn ihr bereit seid, euch zu zeigen, wenn Unrecht geschieht. Und wenn ihr bereit seid, das Kartell der Tabuisierer und Verschweiger einer Gesellschaft zu brechen.“
Immer wieder unterbricht spontaner Beifall den sichtlich bewegten Zwanziger. Niemanden im Stadion lässt diese Rede unberührt, sie wäre ein würdiger Abschluss gewesen. Doch an der Aura des Besonderen will auch die Politik teilhaben, in Gestalt von Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff und Hannovers Oberbürgermeister Stephan Weil. Da das Publikum mittlerweile jeden dritten Satz mit Beifall bedenkt, nimmt die Trauerfeier langsam die Züge eines Parteitags an. Die Gedanken gehen zurück an den Mittwochabend in der Marktkirche zu Hannover. An Margot Käßmanns bewegende Andacht, die ohne jeden Beifall auskam.
Auch am Sonntag ist es an der Kirche, die Trauerfeier vom dem Abdriften ins Seichte zu bewahren. Im rechten Augenblick stimmt der Pfarrer das Vaterunser an. Das halbe Stadion grummelt mit, am Ende bittet der Pfarrer darum, „dass ihr euren Mannschaftskapitän ein letztes Mal aus diesem seinen Stadion geleitet“. Acht Spieler von Hannover 96 nehmen Aufstellung am Sarg und tragen ihn vom Rasen, die Nationalmannschaft steht Spalier.
Die Fans verharren noch ein paar Minuten auf ihren Plätzen, sie singen ihre Hymne „You’ll never walk alone“. Die Nationalspieler reisen weiter zum Länderspiel nach Düsseldorf, Familie Enke zieht im kleinen Kreis auf den Friedhof. An die Grabstelle, neben der Robert Enkes früh verstorbene Tochter Lara ruht. Es ist ein versöhnliches Ende für alle, die sich schwer abfinden können mit dem öffentlich inszenierten Gedenken. Auch am Tag eines Trauerevents ist Platz für einen Abschied nach dem Abschied.
Sven Goldmann
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