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Torwart Andreas Luthe musste gegen Gladbach mit Schwindelgefühlen ausgewechselt werden.
© imago images/Contrast

Andreas Luthe über seine Auswechslung: Der Profifußball nimmt Kopfverletzungen langsam ernster

Kopfverletzungen sind im Fußball lange unterschätzt worden – doch daran ändert sich etwas. Das zeigt nicht erst die Auswechslung von Unions Andreas Luthe.

Als er auf dem Boden lag, dachte Andreas Luthe, er würde weiterspielen können. Etwas mehr als eine Stunde war im Spiel des 1. FC Union gegen Borussia Mönchengladbach am vergangenen Samstag gespielt, als der Berliner Torwart mit seinem Kopf zunächst gegen das Knie von Gladbachs Stürmer Marcus Thuram und dann gegen den Rücken seines Mitspielers Robin Knoche schlug. Wie schlecht es ihm ging, merkte Luthe erst nach seiner Behandlung auf dem Spielfeld. „In dem Moment, als unser Mannschaftsarzt mich hochgezogen hat, bin ich kurz Karussell gefahren“, erzählt er. „Das war schon der Hinweis darauf, dass es keinen Sinn macht, weiterzuspielen.“

In solchen Situationen sei es manchmal nötig, „den Spieler vor sich selbst zu schützen“, sagt Luthe mit ein paar Tagen Abstand. „Wir Profis haben schon den Drang, immer weiterzumachen, schätzen die Situation vielleicht auch falsch ein.“ Er sei froh, dass er im Nachgang mehrfach auf eine Gehirnerschütterung getestet wurde. „Der Umgang mit meiner Geschichte war wirklich gut und konsequent“, sagt der 34-Jährige.

So vorsichtig ist der Fußball nicht immer mit möglichen Kopfverletzungen umgegangen. Die Zeiten, in denen Dieter Hoeneß oder Terry Butcher als Ikonen gefeiert wurden, weil sie nach einem Zusammenprall mit blutigem Turban weitergespielt haben, mögen schon lange vergangen sein. Luft nach oben gibt es trotzdem.

Der Journalist Max-Jacob Ost dokumentiert seit Anfang der Saison auf Twitter den Umgang mit Kopfverletzungen in der Bundesliga. Den Fall Luthe bezeichnete er als einen „von außen betrachtet vorbildlichen Umgang“ – doch so glatt läuft es nicht immer. In vielen der von Ost dokumentierten Fälle spielten die betroffenen Profis weiter. Manche wurden nicht einmal behandelt.

Womöglich ist das auch ein regeltechnisches Problem. Sowohl die Deutsche Fußball-Liga (DFL) als auch andere Verbände haben in den vergangenen Jahren neue Maßnahmen beschlossen wie die Einführung von Screenings in der Saisonvorbereitung. Doch Verwirrung gibt es in manchen Ecken immer noch. So forderte etwa vor einigen Wochen Pep Guardiola, der Trainer von Manchester City, klarere Vorgaben zum Umgang mit möglichen Gehirnerschütterungen.

Im Dezember gab es in dieser Hinsicht einen Schritt nach vorne, als die Regelhüter vom Ifab (International Football Association Board) eine Testphase für zusätzliche Auswechslungen genehmigten. Bei der aktuell laufenden Klub-WM in Katar kann jedes Team im Falle einer Gehirnerschütterung einmal zusätzlich wechseln. Auch die DFL prüft eine solche Regelung.

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In der Premier League wird es ab dem Wochenende die Möglichkeit auf zwei sogenannte „concussion substitutes“ geben. Jede Mannschaft hat je drei weiße und zwei grüne Karten. Bei einer normalen Auswechslung wird die weiße Karte gezeigt, im Falle einer Gehirnerschütterung die grüne. Wenn die eine Mannschaft eine grüne Karte ziehen muss, bekommt die andere zum Ausgleich eine zusätzliche weiße. So könnte es in der Theorie bis zu sieben Auswechslungen pro Mannschaft geben. „Aber wir wollen natürlich nicht, dass es so weit kommt“, sagte der frühere Schiedsrichter Dermot Gallagher dem britischen Sender Sky.

Besteht eine Verbindung zwischen Kopfbällen und Demenz?

Auf der Insel wird das Thema Kopfverletzung ohnehin schon seit Jahren deutlich ernster genommen. Das liegt zum Teil auch daran, dass viele Helden der englischen Fußballgeschichte an degenerativen Gehirnerkrankungen gelitten haben. Die im vergangenen Jahr verstorbenen Jack Charlton und Nobby Stiles waren zwei von fünf Mitgliedern der englischen Weltmeister-Mannschaft von 1966, die später mit Alzheimer oder Demenz zu kämpfen hatten. Dem Deutschen Helmut Haller, der im Finale in Wembley ebenfalls auf dem Platz stand, ging es in seinen letzten Jahren ähnlich.

Der Verdacht besteht, dass solche Fälle sogar auf das Kopfballspiel zurückzuführen sind. Noch wurde keine klare Verbindung zwischen Kopfbällen und Demenz nachgewiesen, doch 2019 fand eine Studie der Universität Glasgow heraus, dass die Wahrscheinlichkeit, an einer neurodegenerativen Erkrankung zu sterben, bei Fußballern mehr als dreimal so hoch ist wie bei anderen Menschen. Nach der Veröffentlichung der Studie entschieden sich die britischen Fußballverbände, das Kopfballspiel für Jugendspieler unter elf Jahren zu verbieten. Mittlerweile hat diese Debatte auch die Premier League erreicht.

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„Es ist äußerst wichtig, dass wir herausfinden, ob es eine Verbindung zwischen Kopfbällen und Demenz gibt“, sagte David Moyes, Trainer von West Ham United. Er fragt auch, ob man nicht spezielle Bälle für das Kopfballtraining entwickeln könnte, um das Risiko etwas zu mindern. „Früher haben die Innenverteidiger und die Mittelstürmer sehr oft Kopfballtraining gemacht. Heutzutage machen wir das nicht mehr so viel“, sagt Moyes.

Auch Andreas Luthe durfte in dieser Woche „erst wieder trainieren, als ich von den Ärzten wirklich grünes Licht hatte“. Der Fußball ist eben vorsichtiger geworden. Zu tun gibt es in Sachen Kopfverletzung aber immer noch einiges.

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