WM 2014 - Deutschland ist Weltmeister: Der herausragende Teamgeist der Weltmeister
Brasilien hat Neymar, Argentinien hat Messi, Portugal hat Ronaldo – und Deutschland hat ein Team. Die Weltmeister von 2014 müssen sich vor ihren Vorgängern nicht verstecken, ganz im Gegenteil. Sie verkörpern vielmehr die ganze Fußballgeschichte des Landes in komprimierter Form.
Thomas Müller setzte gerade zu einer ausgedehnten Eloge auf den Bundestrainer an, als ihn plötzlich das Gefühl beschlich, am falschen Ort zu sein. Eine Horde junger Männer hatte die Mixed-Zone geentert, sie stimmte einen Klassiker des deutschen Liedgutes an – nicht schön, aber laut – und nachdem Sami Khedira, André Schürrle, Mesut Özil, Manuel Neuer und Per Mertesacker ein paar Takte von „So ein Tag, so wunderschön wie heute“ gesungen hatten, wurde Thomas Müller immer unruhiger. Er blickte sich um, überlegte kurz und sagte dann: „Und jetzt schließ ich mich an.“ Weg war er. Thomas Müller hatte in diesem Moment mehr denn je das Gefühl, er sollte jetzt nicht abseitsstehen.
Wahrscheinlich war genau das der Grund, warum es die deutsche Fußball-Nationalmannschaft in Brasilien so weit gebracht hatte.
In den vergangenen Wochen ist ziemlich viel von dem besonderen Geist in diesem Team die Rede gewesen – fast ein bisschen zu viel. „Natürlich hat man vielleicht immer das Gefühl: Das müssen die sagen“, gestand Müller. „Aber das war ernst gemeint. Wir waren schon eine Einheit.“ Im Maracana-Stadion von Rio de Janeiro sind all die schönen Worte am Sonntag mit dem Gewinn des goldenen Weltmeisterpokals offiziell beglaubigt worden, mit Stempel und amtlichem Siegel sozusagen.
Eine Mannschaftsleistung
Der WM-Titel 2014, der vierte nach 1954, 1974 und 1990, war in erster Linie ein Gemeinschaftswerk, auch wenn beim hart erkämpften 1:0 gegen Argentinien Bastian Schweinsteiger, Jerome Boateng und Kapitän Philipp Lahm aus der Mannschaft herausragten. Niemand hat das Wesen des neuen Weltmeisters schöner beschrieben als Englands Kapitän Steven Gerrard. Nach Deutschlands phänomenalem Halbfinalsieg gegen Brasilien twitterte er: „Brasilien hat Neymar. Argentinien hat Messi. Portugal hat Ronaldo. Deutschland hat ein Team!“
Das Team Deutschland hat in Brasilien erst Ronaldo aus dem Turnier geschossen, dann Neymars Brasilien und im Finale auch Lionel Messi. Vermutlich war es kein Zufall, dass genau jene deutschen Spieler, die man vor dem Turnier mit Neymar, Messi und Ronaldo in eine Reihe gestellt hätte, in Brasilien keine oder keine wesentliche Rolle gespielt hatten: Marco Reus fehlte verletzt, Mesut Özil hatte mehr mit sich selbst zu tun, und auch Mario Götze schöpfte nicht annähernd sein gewaltiges Potenzial aus – ehe er mit seinem Tor in der Verlängerung neben Bastian Schweinsteiger zum Helden des Abends aufstieg.
Am Ende zählt nur der Erfolg, den man mit der gesamten Mannschaft feiern kann – auch das haben die Deutschen bei diesem Turnier ausgestrahlt, diese wilde Entschlossenheit, die sich nicht zuletzt nach den Erfahrungen früherer Misserfolge eingestellt hat. Joachim Löw, der Bundestrainer, bezeichnete den Titel als „ein Produkt von vielen, vielen Jahren“. Vor dem Spiel hatte er ein letztes Mal das Wort an seine Mannschaft gerichtet: „Ihr müsst heute so viel geben wie noch nie in eurer Karriere, um das zu gewinnen, was ihr noch nie gewonnen habt.“
In der Nachbetrachtung wirkte der Erfolg fast ein bisschen zwangsläufig – aber nicht, weil die Deutschen die feinsten Fußballer hatten, sondern weil all die feinen Fußballer bei diesem Turnier im Allgemeinen und seinem finalen Spiel im Besonderen einen großen Willen zeigten und starken Charakter bewiesen. „Wir wussten, dass Champions irgendwann den letzten Schritt machen und das Ding zu Ende bringen“, sagte Löw. „Heute gab es nur einen verdienten Sieger. Das war diese Mannschaft. Es war insgesamt die beste Mannschaft im Turnier.“
Der Zeitgeist des deutschen Fußballs
Jede der drei bisherigen deutschen Weltmeister-Mannschaften hat ein wenig den Geist ihrer Zeit gespiegelt: Das Wunder von Bern fiel in die Aufbaujahre der Republik; der Titel im eigenen Land war Ausdruck für den Pragmatismus der 70er Jahre; 1990 fand der Rausch der politischen Wiedervereinigung mit dem Sieg in Rom seine fußballerische Verlängerung. In den Weltmeistern von 2014 steckt nun die ganze Geschichte in komprimierter Form: Sie hat die Elf-Freunde-Seligkeit von ’54 gelebt wie kein anderes Team seitdem, ist aber nicht minder geschäftstüchtig als die Weltmeister von 1974 und genießt es, im Zentrum eines meist unverkrampften Patriotismus zu stehen.
Man muss sich ganz sicher nicht schämen für diesen Weltmeister, das zeigt auch der Vergleich mit der Geschichte. Vor genau 40 Jahren, im Endspiel von München, stand ein junger Spieler namens Uli Hoeneß auf dem Platz. In der Nacht vor dem Finale hatte er mit Fieber im Bett gelegen. Dem Bundestrainer erzählte er davon kein Wort – um seinen Einsatz im Finale nicht zu gefährden. Eine halbe Stunde vor dem Endspiel von Rio ging Sami Khedira zu Bundestrainer Joachim Löw, um ihm mitzuteilen, dass seine Wade wieder schmerzte und es vermutlich besser wäre, wenn er nicht spielte.
Wenn man Khedira im Maracana beobachtet hat, musste man sich fragen, ob seine lädierte Wade nicht auch die Strapazen eines Fußballspiels problemlos weggesteckt hätte. Er stand die ganze Zeit neben der Bank, trieb die Mannschaft an und organisierte bei strittigen Entscheidungen das Pressing gegen den vierten Offiziellen. „Der Sami freut sich keine Spur anders, nur weil er heute nicht gespielt hat“, sagte Wolfgang Niersbach, der Präsident des Deutschen Fußball-Bundes. Das Gleiche galt für Lukas Podolski oder Per Mertesacker, selbst für den Dortmunder Kevin Großkreutz, der in den sieben Spielen nicht eine Minute auf dem Platz gestanden hatte.
Bastian Schweinsteiger wurde beim Abgang aus dem Stadion gefragt, was das Besondere an dieser Mannschaft sei. „Das Besondere sind die Auswechselspieler, die nicht so oft zum Zug gekommen sind“, antwortete er. „Kevin Großkreutz – Sie wissen alle, wie er ist.“ Schweinsteiger machte eine dramaturgische Pause, und man meinte, die Abscheu und die Geringschätzung des Münchners für den Ur-Dortmunder herauszuhören. „Ich habe nicht gedacht, dass er so ein cooler Typ ist.“