Kolumne: So läuft es: Der Grundstein meiner Laufleidenschaft
Jeder braucht jemanden, der hilft, die eigenen Leidenschaften zu entdecken. Unser Kolumnist Mike Kleiß läuft gerne und viel, weil er seine Großmutter hatte.
Heute, genau heute laufen wir gemeinsam die letzten Schritte. Und nehmen endgültig Abschied voneinander, Großmutter und ich. Wir sind lange Wege miteinander gegangen. Felder, Wälder, Berge, wir liefen miteinander. Und mit Großvater, bis er 1992 starb. Großmutter war es, die den Grundstein meiner Laufleidenschaft gelegt hat. Alleine dafür bin ich ihr für immer dankbar. Die ersten Kinderjahre verbrachte ich bei meinen Großeltern. Selten bin ich mit dem Rad gefahren, meist bin ich gelaufen. Meine Großeltern hatten ein Auto, aber das wurde nur für große Strecken benutzt. Von A nach B kamen wir meist zu Fuß.
Großmutter vertraute mir, sie war keine dieser Satelliten-Mütter, oder Omas, sie ließ mich laufen. Ob zu dem kleinen Weiher im Wald, zum Fußball-Training oder zu den ersten Läufen durch den Westerwald. Natürlich war sie stets in Sorge, aber sie vertraute mir. Nie missbrauchte ich diese Form von Vertrauen und Freiheit.
Als ich gerade laufen konnte, rannte ich bis zur Erschöpfung durch unseren langen Flur. Immer und immer wieder. Am Ende des Gangs lag links das Badezimmer, rechts die Küche. Ich bog immer rechts ab, bis zu dem Tag, an dem ich die Kurve nicht bekam und ich verletzt im Badezimmer lag. Die Narbe an der Stirn ist bis heute ein Warnzeichen für mich, es nicht zu übertreiben. „Wir hätten die Wunde besser nähen lassen. Die Leute sagten oft, wir sollten besser auf dich aufpassen, aber ...“, sagte Großmutter einige Jahre später, als ich ihr von meinem ersten Marathon berichtete. „Du brauchtest Bewegung. Also vertrauten wir darauf, dass alles gut laufen würde.“ Wir sprachen darüber, wie sehr sie mich und das Laufen gefördert hatte. „Die anderen Kinder haben dich oft gehänselt. Weil es schlimm ausgesehen hat, wie du gelaufen bist. Aber: Du bist rank und schlank. Und die, die dich gehänselt haben, sind alle dick. Also?“, sagte sie verschmitzt.
Im Januar besuchte ich Großmutter wie so oft. Sie hielt einen Mittagsschlaf, ich lief 20 Kilometer bei minus 15 Grad, Schnee und Sonnenschein. Wieder bei ihr angekommen, rieb sie mir die kalten Hände. So wie früher, als ich vom Schlittenfahren kam. So wie früher sagte sie: „Ohhh wie kalt, ohhh wie kalt“, mit einem besorgten Lächeln. Nur wenige Wochen später brachte ich sie vom Krankenhaus in ein sehr gutes, wunderbares Pflegeheim. „Es läuft nicht gut bei dir, Großmutter. Zwischen uns war immer Vertrauen. Und heute musst du mir wieder vertrauen. Wir wussten, dass es einen Tag geben würde, der alles verändert...“, sagte ich und stockte. „Und dieser Tag ist heute, nicht wahr?“, sagte sie. Ich nickte. „Dann schauen wir mal, wie es läuft. Vielleicht ist dieser Tag ein neuer Anfang“, sagte sie mit viel Kraft. Als ich ging, dachte ich: Was für eine starke Frau. Gerade wenn es nicht läuft, nimmt sie es als neuen Anfang. Wir brauchen viel mehr Eltern und Großeltern, die die Bewegung ihrer Kinder derart fördern. Unbedingt! Denn in der Kindheit wird der Grundstein gelegt. Für ein gesundes Leben.
Wenige Tage nach dem neuen Anfang ist Großmutter gegangen. Sie ging friedlich, sie ging mit Würde. Sie machte wieder einen neuen Anfang. Nur anders. So läuft es.
Mike Kleiß leitet eine Kommunikations- und Markenagentur in Köln und schreibt hier an jedem Donnerstag übers Laufen.
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