Dietmar Hamann im Interview: „Der FC Bayern ist die Mannschaft, die man erst einmal schlagen muss“
Der Sky-Experte im Interview über die Fortsetzung der Champions League und den Unmut des 1. FC Union über das Zuschauer-Konzept der DFL.
Dietmar Hamann, 46, ist als Experte für den TV-Sender Sky tätig. Der ehemalige Nationalspieler (59 Einsätze) spielte als Profi unter anderem für Bayern München und den FC Liverpool.
Dietmar Hamann, Sie haben ein ganz besonderes Verhältnis zur Champions League. Im Jahr 2005 siegten Sie mit dem FC Liverpool nach einem 0:3-Pausenrückstand gegen den AC Mailand noch 4:3 nach Elfmeterschießen. Wie groß ist die Freude bei Ihnen, dass es nun weitergeht mit dem größten Wettbewerb im Mannschaftsfußball?
Ich freue mich als Fan, und vor allem für die Spieler, denn bei uns in der Bundesliga ging es ja schon vorher weiter, in Italien oder England ja erst später. Vor sechs, acht Wochen war da nicht sicher, ob überhaupt weitergespielt werden kann.
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Sie sprechen es an, die Ligen haben ihre Spielzeiten nicht synchron oder auch gar nicht zu Ende gebracht, wie die Franzosen. Da sind die Spieler doch in einem unterschiedlichen Rhythmus. Sind die verbliebenen deutschen Teilnehmer Bayern München und RB Leipzig nicht im Nachteil? Die Saison in der Bundesliga ist ja schon länger vorbei als etwa die in der Premier League.
Es geht nichts über einen guten Rhythmus. Wenn es läuft, so wie es bei den Bayern war, dann können die Spiele nicht schnell genug kommen. Da war die Pause vielleicht nicht hilfreich. Auf der anderen Seite hat Maurizio Sarri jetzt gesagt: Seine Mannschaft sei körperlich und mental am Ende.
Trainer Sarri hat mit Juventus Turin noch Ende Juli in der Liga gespielt, also rund vier Wochen nachdem die Bayern das Pokalfinale gewonnen haben und ist nun schon ausgeschieden. Immerhin aber haben die Bayern noch das Achtelfinal-Rückspiel gegen Chelsea am Sonnabend. Nach dem 3:0 im Hinspiel ist das doch eine Art Vorbereitungsspiel, oder?
Das Spiel ist gut für die Bayern, um den Feinschliff zu bekommen. Die Frage ist, wie sie da nun aus der Pause rauskommen. Sie hatten ja zum Wiederbeginn der Bundesliga, dem Restart, auch eine Halbzeit lang beim 1. FC Union noch Probleme, dann allerdings souverän gewonnen. Sie haben danach in der Liga gespielt, wie man Fußball nicht besser spielen kann. Sie sind die zu schlagende Mannschaft im Finalturnier von Lissabon.
Die Bayern sind Ihr klarer Favorit für den Titel in der Champions League?
Die Frage wird sein: Sollte Benjamin Pavard in Lissabon nicht spielen können, ist es dann richtig, Joshua Kimmich aus der Mitte wegzuziehen? Ich glaube, dass Kimmich der Mannschaft unglaublich viel Stabilität und Organisation gegeben hat. Ich weiß nicht, wie die Mannschaft das verträgt, wenn Kimmich da aus der Zentrale abgezogen werden sollte.
Nun wird es ja auch auf den Gegner ankommen, der FC Barcelona oder Neapel sind mögliche Gegner der Bayern …
Ich glaube schon, dass der Aufschwung der Bayern damit zusammenhängt, dass man in der Mitte eine laufstarke Formation gefunden hat. So wie Kimmich das interpretiert hat, geht es kaum besser. Wenn der Hansi Flick das so organisieren kann, und Kimmich in der Mitte lässt, wäre das besser. Aber im Moment sieht das nicht so aus.
Wie beurteilen Sie denn insgesamt die Arbeit von Hansi Flick?
Wie er da Ruhe hereingebracht hat und Zeichen gesetzt hat, das ist gut. Bei ihm spielt die beste Mannschaft, der ein oder andere Legostein ist da ineinander gefallen, wie etwa mit dem kometenhaften Aufstieg von Alphonso Davies. Aber wie Hansi das moderiert hat, den Müller oder Boateng wieder reingebracht hat, der gefühlt schon viermal den Verein verlassen hat, das zeigt, dass er nicht nur taktische Fähigkeiten hat, sondern auch zwischenmenschlich auf oberster Ebene agiert. Wenn in München alle an einem Strang ziehen, dann kannst Du eine Wucht entwickeln, die es im Weltfußball sonst kaum gibt.
Mit RB Leipzig ist schon ein Vertreter aus der Bundesliga im Finalturnier, es geht für die Sachsen im Viertelfinale gegen Atletico Madrid. Ist das mehr als Folklore zu sehen?
Sicher, Leipzig war beim Restart der Bundesliga vielleicht sogar die größte Enttäuschung. Und Atletico hat Titelverteidiger Liverpool ausgeschaltet. Wie sie das geschafft haben, wissen sie bis heute nicht. Aber in der spanischen Meisterschaft war Atletico weit von Real oder Barcelona entfernt. Leipzig ist nicht chancenlos, zumal es nur ein Spiel ist.
Zum ersten Mal wurden ja nicht nur die Durchführungsbestimmungen in der Champions League geändert, sondern auch der Modus. Es wird in nur einem Stadion und ohne Zuschauer gespielt – ab dem Viertelfinale in einer K.o.-Runde, nur mit jeweils einem Spiel. Wie gewöhnungsbedürftig ist das alles?
Der Turniermodus macht die Sache spannend. Da wird nicht taktiert, wie als wenn eine Mannschaft ein gutes Hinspielergebnis im Rücken hat. Es wird Verlängerungen und Elfmeterschießen geben – vielleicht kann man das in Zukunft sogar immer so machen, das wird doch aufregender als bisher.
Wie schwer fällt es Ihnen eigentlich die Geisterspiele für das Fernsehen zu analysieren und zu kommentieren, wenn die Atmosphäre ein wenig an den Trainingsplatz erinnert?
Ich wusste auch nicht, was mich erwartete. Was mich überrascht hat, ist das Niveau. Von der Qualität gab es wenige Einbußen. Ich habe nie so ein Spiel gehabt unter Wettbewerbsbedingungen, ich stelle mir das nicht einfach vor als Spieler.
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Wie wichtig ist die Fortsetzung Champions League als Signal für den gesamten Fußball?
Das ist eine komplizierte Sache. Es gibt eben im Breitensport und Nachwuchs nicht die Möglichkeiten wie bei den Profis, was Sicherheitsmaßnahmen betrifft. Das ist nicht normal, aber das müssen wir hinnehmen.
Wie groß ist denn Ihre Hoffnung, dass irgendwann ein wenig Normalität in den Fußball zurückkehrt?
Also erst einmal ist es Fakt, dass die Deutsche Fußball-Liga da ein Vorreiter war, weil die Bundesliga dann wieder spielen konnte. Die nordamerikanischen Profiligen haben das alles zum Maßstab genommen. Jetzt werden wir sehen, ob wir mit begrenzten Zuschauerzahlen wieder anfangen können.
Nicht alle Klubs können sich mit dem Konzept der DFL anfreunden, der 1. FC Union will nicht ohne Stehplatzbesucher und Gästefans spielen, weil es angeblich nicht zum Charakter des Klubs passt.
35 von 36 Vereinen sind der Meinung, dass das geht. Jetzt ist nicht die Zeit für Alleingänge, jetzt ist die Zeit für Gemeinsamkeiten.
Eine klare Meinung …
Es ist doch so: Wir spielen jetzt wieder Fußball. Es gibt Freischaffende oder Künstler, die seit acht Monaten ihre Tourneen absagen und die auf Kurzarbeit sind, da gibt es andere Härtefälle als den Fußball.