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Sebastian Vettel: Der Dauersieger und Held ohne Reich

Viermal. Viermal hintereinander. Viermal hintereinander Formel-1-Weltmeister. Sebastian Vettel hat es wieder geschafft. Längst prägt der Mann aus Heppenheim eine Motorsport-Ära. Doch trägt sie noch nicht seinen Namen. Sondern den seines Rennstalls Red Bull.

Die Maslowsche Bedürfnispyramide gilt auch für Formel-1- Piloten. An ihrer Spitze steht die Selbstverwirklichung. Auch Sebastian Vettel weigert sich bisweilen, den Anordnungen seines Chefs zu folgen. Seinen Teamkollegen Mark Webber hat er beim Rennen in Malaysia im Frühling überholt, obwohl ihm das verboten worden war. Und gestern in Indien gab er kurz vor Rennende wieder einmal richtig Gas, satt seinen Vorsprung sicher ins Ziel zu retten – zum Ärger seiner Vorgesetzten, die doch nicht wollen, dass er einen Unfall riskiert.

Wer Sebastian Vettel zu fassen kriegen will, der hat es nicht leicht. Nicht einmal an seinem Helm ist zu erkennen, wer sich darunter verbirgt. Der Kopfschutz ist so etwas wie die persönliche Flagge eines jeden Autorennfahrers. Ein Symbol mit Wiedererkennungswert, wie Ayrton Sennas quietschgelber Helm oder Michael Schumachers schwarz-rot-goldener. Sebastian Vettel hat kein unverwechselbares Design, er lässt sich den Helm vor jedem Rennen neu lackieren. „Wenn du in 50 Jahren einen Helm von Sebastian gezeigt bekommst, wirst du nicht wissen, dass es seiner ist“, sagt sein Kontrahent, der Mercedes-Pilot Lewis Hamilton.

Den einzigen Wiedererkennungswert auf Vettels Helm bietet das Logo seines Arbeitgebers Red Bull. Das ist immer drauf.

Damit hat Hamilton die Kernfrage gestreift, die Vettels Erfolge überlagert: Ist dies die Ära Vettel? Oder die Ära Red Bull? Vier Weltmeistertitel in Folge hat Sebastian Vettel nun in der Formel 1 gewonnen, den jüngsten gestern mit einem Start-Ziel-Sieg beim Grand Prix von Indien. Damit ist der Heppenheimer einer der erfolgreichsten Sportler der Geschichte, er reiht sich ein in die Riege der deutschen Weltstars, der Beckers, Grafs, Beckenbauers, Schmelings.

Für Niki Lauda, selbst dreimal Weltmeister, ist Vettel „ein Gigant“. In der Ruhmeshalle der Formel-1-Statistik steht Vettel jetzt auf einer Stufe mit der Legende Alain Prost. Vor ihm liegen nur noch der Argentinier Juan Manuel Fangio (fünf Titel) und der Rekordweltmeister Michael Schumacher (sieben). Aber Vettel ist erst 26 und sein Siegeshunger zeigt noch keinerlei Anzeichen der Sättigung.

Wie der Junge aus Heppenheim nun zum Giganten wurde? Das kann Adrian Newey beantworten. Red Bulls Autodesigner hat mit vielen Formel-1-Größen zusammengearbeitet, auch mit Alain Prost und Ayrton Senna. Es ist also ein durchaus fundiertes Urteil, wenn Newey sagt, dass Vettel aus dieser Riege „hervorrage“: „Er ist sehr ruhig und unglaublich zielgerichtet. Er ist hochintelligent und macht Fehler, aber eben meist nur einmal, weil er daraus lernt. Seine Aussagen übers Auto sind fundiert und prägnant.“

Die Verbindung des Duos Newey und Vettel ist ein Grund dafür, dass in der schnelllebigen Formel 1 eine seltene Ära der Dominanz entstand, die nun schon fast ein halbes Jahrzehnt andauert.

Genau das ist aber auch der Grund, weswegen Sebastian Vettel auf dem Weg zum besten Rennfahrer der Geschichte inzwischen an eine Art gläserne Decke geraten ist. Auch wenn er Fangio und Schumacher in den Statistiken überholen sollte, die letzte Stufe wird Vettel nicht rein rechnerisch erklimmen können. Zumindest nicht bei seinem jetzigen Rennstall. Dort kann er sich nur selbst einholen, da ist es auch egal, ob er noch drei, fünf oder acht weitere Titel holt. Red Bull hat ihn seit Teenagerzeiten gefördert und aufgebaut, Vettel ist einer der wichtigsten Werbeträger. Und so, als eine Art menschliches Designerprodukt, als der Pilot, der aus der Dose kam, wird Vettel auch von manchen gesehen. Als den Erfüllungsgehilfen des Firmenpatriarchen Mateschitz, als den Hauptdarsteller seiner Werbekampagne.

Vettel ist der perfekte Botschafter für Deutschland

Vettels erbittertster Widersacher, der Ferrari-Pilot Fernando Alonso, hat einmal gesagt: „Wir fahren nicht gegen Vettel, wir fahren gegen Newey.“ Mit diesen ziemlich despektierlichen Worten hat Alonso einer Stimmung in Fahrer- und Fankreisen Ausdruck verliehen, die sich mit jedem Erfolg mehr Bahn bricht.

Trotz seiner grandiosen Erfolgsserie entfacht Vettel nicht die Euphorie, die Michael Schumacher einst in Deutschland losgetreten hatte. Das Rennen am Nürburgring war früher ein nationales Ereignis, das selbst ohne einheimische Spitzenfahrer mehr als 300 000 Menschen anlockte. Den diesjährigen Großen Preis in der Eifel wollten gerade einmal 50 000 Menschen sehen, trotz des Lokalhelden Vettel.

An Vettel selbst kann es eigentlich nicht liegen. Er lacht, er flucht, er schreit, er weint, er zeigt Mitgefühl – mehr Herz kann ein Mensch in der Öffentlichkeit kaum zeigen. Es liegt wohl vielmehr daran, dass er seinen hartnäckigsten Verfolger nicht abschütteln kann.

Es ist sein eigener Arbeitgeber, der seine Erfolge gleichermaßen ermöglicht und absorbiert. Auch die Pfiffe, die er nach seinen Siegen in Italien und Singapur einstecken musste, galten wohl in erster Linie seinem Brötchengeber. Vettel hat das auch mit seiner typischen Ironie wegzuwischen versucht, aber es hat ihn wohl doch mehr getroffen, als er öffentlich zugeben möchte. Nicht einmal auf den Heimvorteil kann er bauen. Auf den Zeltplätzen rund um den Nürburgring sind immer noch mehr Schumacher-Devotionalien zu sehen. Warum verfängt der aktuelle Held als Idol der bierseligen Zelter nicht, der doch selbst das Hohelied des Campings singt und teilweise noch immer im Wohnmobil nächtigt?

Dabei ist Vettel der perfekte Botschafter für Deutschland, wenn man davon absieht, dass er aus steuerlichen Gründen in der Schweiz lebt. Er ist fleißig, ehrgeizig, sparsam, erfolgreich in einer Kernbranche unserer Industriegesellschaft, er hat keine Allüren und ist dazu auch noch witzig. Er ist so nah am Otto-Normalbürger, wie man es als Star sein kann, trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – ist er kein Mann der Massen. Keiner wie Schumacher, der so gern mehr sein wollte und dennoch seine Herkunft als KfZ-Mechaniker nie ganz verleugnen konnte. Vielleicht erkannten sich in dem bauernschlauen Kerpener, der sich bei seinem Weg an die Spitze mit kleinen Lügen, gepumptem Geld und dubiosen Manöver hochgetrickst hat, mehr Menschen bei ihrem täglichen Kampf wieder als bei seinem Nachfolger.

Anders als der oft rabiate Schumacher hat Vettel Manieren, er räumt die Gegner meist mit dem entwaffnenden Lächeln eines englischen Adligen zur Seite. Hat Abitur, er wollte sogar mal studieren, Maschinenbau. Doch was seine Anhängerschaft betrifft, sitzt der Thronfolger damit zwischen allen Stühlen. Denn obwohl er gern auch zu gesellschaftlichen Themen philosophiert und mit britischem Humor gleichermaßen bei „Wetten, dass...“ und „David Letterman“ Geistreiches von sich geben kann, kommt er auch bei den Bio-Intellektuellen nur schwer an, weil seine Art des Geldverdienens dort kaum vermittelbar ist.

Sebastian Vettel, der König der Formel 1, und doch ein Held ohne Reich.

Vettels größte Schwachstelle: dass er keine hat

Nichts davon ist seine Schuld. Genau so wenig wie es sein Vergehen ist, dass er in dieser Saison von Anfang an allen davon gefahren ist. Derzeit fehlt ihm schlicht ein gleichwertiger Konkurrent, der seinen eigenen Stellenwert heben würde. „Es ist ein bisschen wie mit Roger Federer oder Muhammad Ali“, sagt der Formel-1-Chef Bernie Ecclestone. „Vettel ist der Beste, und die Leute wollen es sehen, wenn er geschlagen wird.“ Gerd Noack macht den Vettel-Gegnern dabei wenig Hoffnung. „Eine richtige Schwäche von Sebastian fällt mir nicht ein“. Noack war Vettels Entdecker, damals auf der Kartbahn in Kerpen. „Vielleicht hat er die Schwächen immer verheimlicht vor mir oder er hat keine, ich weiß es nicht.“

Womöglich ist das Vettels größte Schwachstelle: dass er keine hat. Dass ihn kaum etwas aus der Ruhe bringt, dass er noch weniger Angriffsfläche bietet als der kontroverse Schumacher. Wenn Schumacher eine Art volkstümlicher Boris Becker der Formel 1 war, dann ist Vettel der rätselhafte Michael Stich. Außer von seiner Herkunft aus einfachen Verhältnissen, der Liebe zu Eintracht Frankfurt sowie zu seiner Jugendfreundin Hanna Sprater weiß man über den Menschen Vettel wenig bis nichts.

Er achtet penibel darauf, dass keine privaten Details in die Öffentlichkeit gelangen und ist so selbst als Weltstar eine unbekannte Person geblieben. Während Kollegen wie Hamilton und Alonso die Sozialen Netzwerke des Internets nutzen und Fotos vom Gassi-Gehen oder durchzechten Nächten posten, ist der Deutsche zu smart für die Selbstdarstellung der Generation Smartphone. Er brauche den Starrummel nicht, sagt Vettel: „Ich genieße es eher, wenn ich unerkannt um die Häuser ziehen darf.“ Und weil er bisher quasi nur in Dienstkleidung an die Öffentlichkeit tritt, wird er eben vor allem als Red-Bull-Figur wahrgenommen.

In diesem Jahr hat Vettel mit dem Ungehorsam von Malaysia eine kleine Initiative für die eigene Profilbildung gestartet. Als wirkliche Sportlegende und auch als wirklich eigenständiger Mensch wird Vettel aber wohl erst dann wahrgenommen werden, wenn er ganz aus Mateschitz’ Nest flüchtet und zu einem anderen Rennstall wechselt. Nur fern dieser Heimat kann er die letzten Kritiker widerlegen, die behaupten, er würde nur dank der schützenden Hand des Firmenpapas Trophäen sammeln. Angeblich hat Vettel einen Vorvertrag bei Ferrari auch bereits unterschrieben.

Beim Traditionsrennstall in Maranello Geschichte zu schreiben, das hat ihm Michael Schumacher vorgemacht. Sein Kindheitsidol hat ihm Mitte der vergangenen Woche diesen Weg auch ans Herz gelegt. Er ist nicht der einzige im Dunstkreise der Formel 1, der ihm zu diesem Schritt rät. Aber würde er dann nicht doch wieder nur dem Weg eines anderen folgen? Vielleicht könnte er seine eigene Geschichte besser bei Mercedes schreiben. Er könnte die deutsche Kultmarke aufpolieren und zum ersten WM-Titel seit 1955 führen. Dann würde nicht ein Stern strahlen oder irgendeine Dose. Sondern nur Sebastian Vettel.

Bis dahin muss der kleine Ungehorsam genügen, den sich Vettel bei fast jedem seiner Siege gönnt: wenn er gegen Rennende noch einmal mit aller Gewalt die schnellste Runde fahren will. Am Red-Bull-Kommandostand rauften sie sich deswegen auch in Indien wieder die Haare. Diese Momente sind ein stilles Zeugnis kindischen Aufbegehrens in einem doch so reif wirkenden Mann. Es ist seine kleine verspätete Pubertät.

Erschienen auf der Dritten Seite.

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