Tischtennisspieler Timo Boll: Der China-Kracher
Was in Deutschland der Fußball, das ist in China Tischtennis. Das Tischtennis brachte Timo Boll ins Reich der Mitte. Heute ist er dort ein Megastar – und fühlt sich richtig heimisch.
Das soll Peking-Ente sein? Ein buntes Buffet steht auf dem Tisch, ein Sammelsurium aus Tellern, Schälchen und Körben. Doch Timo Boll weiß, was zu tun ist. Der 30-Jährige nimmt mit den Stäbchen einen Teigfladen aus einem Korb, legt Entenfleisch, Gurken- und Lauchstreifen drauf, gießt einen Klecks dunkelbrauner Soße darüber, rollt alles zusammen und beißt hinein. Den fragenden Blick der Kellnerin beantwortet er mit „haochi“ – lecker.
Die verwirrende Welt in diesem Pekinger Restaurant kommt Timo Boll vertraut vor. „China ist meine zweite Heimat geworden“, sagt er. Und die Ente sein Lieblingsgericht, mit dem er sich für hartes Training oder einen Sieg im Tischtennis belohnt. Der Sport führt ihn oft in das Land, in den vergangenen 15 Jahren ist er 70 Mal hierher gereist. Die Bedienungen im Restaurant kennen ihn – und begrüßen Boll mit einem herzlichen Lächeln.
Das erste Gefühl, willkommen zu sein, hat Boll bei seiner Ankunft am Beijing International Airport bekommen. Der Beamte am Einreiseschalter, blaue Uniform, strenger Seitenscheitel, greift mechanisch nach jedem Reisepass, der ihm gereicht wird. Vor ihm steht nun ein Deutscher, 1,81 Meter groß, in schwarzer verwaschener Jeans und roter Sportjacke. Der Blick des Beamten marschiert hoch und runter: vom Pass ins Gesicht und wieder zurück. Auf einmal lächelt er. „Are you table tennis player?“, fragt er. Boll nickt verlegen und fragt: „Do you like table tennis?“ Die Antwort: ein begeistertes „Yeah, yeah!“
Hinter dem Zollbereich warten bereits Fans auf Boll, für die er seine Unterschrift auf allem verewigen soll, was zu seinem Sport gehört: auf Schlägern, Bällen und kleinen Platten zum Zusammenklappen. Mit dem deutschen Autogramm geben sie sich nicht mehr zufrieden, sie wollen auch chinesische Schriftzeichen.
Was in Deutschland der Fußball, das ist in China Tischtennis. Die Begeisterung begann Ende der 50er Jahre, als ein Tischtennisspieler den ersten Weltmeistertitel für China überhaupt im Sport gewann. Von bisher 24 olympischen Goldmedaillen gingen 20 an Chinesen. Nur auf einen Gegner müssen sie besonders aufpassen. Timo Boll besiegt derzeit als Einziger regelmäßig ihre Besten und hat ihnen schon mal Platz eins der Weltrangliste abgenommen. Chinas Cheftrainer Liu Guoliang sagt: „So lange er spielt, werde ich nicht ruhig schlafen können.“
Dass Boll einmal das riesige Land sein zweites Zuhause nennen würde, hätte er sich früher nie vorstellen können. Es war für ihn eine ferne, verschlossene Welt, und er ein behüteter, schüchterner Junge aus dem Odenwald. Als er mit 14 nach einem Spiel mit seiner Mannschaft essen gehen sollte, wehrte er sich vehement gegen ein chinesisches Restaurant. Zu exotisch. „Ich wollte lieber eine Pizza.“
Dann kam China zu ihm – in das kleine Höchst. Als Boll 15 war, zogen alle vier Spieler des nordhessischem Klubs TTV Gönnern in den südhessischen Odenwald, weil Deutschlands größtes Tischtennistalent nicht bei seinen Eltern ausziehen wollte. Einer der Umsiedler war der 20 Jahre ältere Xu Zengcai, ein chinesischer Mannschaftsweltmeister. „Ich war sein Ziehsohn im Tischtennis“, erzählt Boll. Xu Zengcai verriet ihm nicht nur, wie er dem Ball tückische Rotation mitgeben kann. Er führte Boll auch kulinarisch an seine Heimat heran. Zusammen mit seiner Frau Chen Zihe, ebenfalls erfolgreiche Spielerin, kochte er Jaozi, chinesische Maultaschen, erzählte Boll, wo welche Spezialität herkommt, und brachte ihm bei, mit Stäbchen zu essen.
Mit 16 Jahren reiste Boll dann zum ersten Mal nach China. Am liebsten wäre er gleich wieder umgekehrt. „Das Klima war brutal. Schwitzen kannte ich vom Sport, Schwitzen ohne Sport, weil die Luft so feucht ist, war mir neu.“ So viel Armut auf so engem Raum hatte er noch nie gesehen. „Mitten in Peking wohnten Menschen in zusammengeschusterten Wellblechverschlägen, vielleicht zwei mal drei Meter groß. Man konnte darin noch nicht einmal aufrecht stehen. Andere haben einfach auf der Straße geschlafen.“ In der Kantine des nationalen Trainingszentrums wurde ihm erst einmal übel. „Ich musste die Luft für eine Minute anhalten, weil der Geruch mich fertiggemacht hat. Er war so penetrant, dass ich Mühe hatte, den Brechreiz zu unterdrücken.“
Und dann das Training: Der Ball flog anders, weil die Tischoberfläche ungewohnt stumpf war. Boll kam es vor, als stände der Ball in der Luft, als wollte er einfach nicht zu ihm kommen. Hinzu kam die Ehrfurcht vor seinen Trainingspartnern. „Als ich gesehen habe, wie hart die arbeiten, ging mir durch den Kopf: Ich bin zu schlecht, um mit euch zu trainieren.“
Doch in Boll war etwas geweckt: ein Ehrgeiz, zu den Meistern seines Sports aufzuschließen. Auch gestärkt durch die Faszination, wie Tischtennis das Land ergriff: stundenlange Übertragungen im staatlichen Fernsehen CCTV, Sporthallen mit zehntausenden Zuschauern, die bei langen Ballwechseln wie elektrisiert „Oh“ und „Ah“ rufen.
Wenige Jahre später gelangen Boll die ersten Siege gegen chinesische Spitzenspieler. 2003 erreichte er Platz eins der Weltrangliste. Wenn er heute auf einem Markt in Peking unterwegs ist, dauert es nur Sekunden, bis ihn Menschen umringen. Verkäufer kommen hinter den Ständen hervor, nehmen ihn in ihre Mitte und rufen ihn „peng you“ – Freund. Einer klopft sich mit der Hand auf die Brust. „You’re in my heart.“
Um weiter so gut zu spielen wie die Chinesen, will Boll leben und trainieren wie sie. Mehrere Sommer spielte er für zwei Monate in der dortigen Liga. Er reiste dabei durch das ganze Land bis in die Innere Mongolei. Je mehr er von der Fremde erlebte, desto vertrauter wurde sie ihm.
„Es ist mein China geworden“, sagt er heute. „Was ich so gerne mag, ist diese Gastfreundschaft, diese Herzlichkeit.“ Wenn er mit seiner Mannschaft unterwegs ist, sprechen ihn die Spieler und Trainer ständig an, sie wollen ihn einbinden, seine Meinung wissen, etwas von Deutschland erfahren, oder sie fragen ihn im Restaurant, ob sie nicht noch eine Spezialität für ihn bestellen sollen, Hühnerfüße etwa. „Sie wollen, dass ich mich aufgehoben fühle. Das habe ich gerade auch dann zu spüren bekommen, als ich mal nicht so gut gespielt habe.“
In Deutschland zieht sich Boll eher zurück und geht mit seinem Hund im Wald spazieren. In China sucht er das Abenteuer. Er lebt sein anderes Ich aus, ein neugieriges, erlebnishungriges. Es zieht ihn in Lokale an große Tafeln, auf denen die Gerichte auf einem Drehteller die Runde machen. Jeder prostet jedem zu. „Es läuft nicht so gemütlich wie bei uns ab, wo man sich erst nach und nach in Stimmung nippt. Es findet ein richtiges Gemeinschaftstrinken statt, ein lustiges Spektakel, bei dem ich gerne zuschaue.“ Anschließend zieht er manchmal noch in eine Karaokebar weiter. In diesem Sommer ist er nicht wie sonst für ein paar Tage in den Urlaub auf die Malediven oder nach Spanien geflogen, sondern auf die chinesische Badeinsel Hainan.
Um noch tiefer in dieses Land einzutauchen, lernt er seit einem Jahr die Sprache, manchmal bis zu 20 Stunden in der Woche am Konfuzius-Institut in Düsseldorf. Auf dem Weg durch Peking erkennt er viele Geschäfte an den Schriftzeichen, im Lokal muss er sich nicht mehr mit Englisch behelfen. Einen Platz in seinem Leben soll China für ihn auch dann behalten, wenn er in ein paar Jahren nicht mehr Tischtennis spielt. „Ich kann mir sehr gut vorstellen, auch später etwas zu machen, was mit China zu tun hat“, sagt er. Ein kleines Trainingsziel will er bald erreichen: „Ich möchte lernen, eine Peking-Ente zuzubereiten.“
Unser Autor ist Reporter beim Tagesspiegel. Nächste Woche erscheint von ihm das Buch „Timo Boll: Mein China. Eine Reise ins Wunderland des Tischtennis“ bei Schwarzkopf & Schwarzkopf.
Friedhard Teuffel