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Geteiltes Leid. Brasiliens Abwehrchef Thiago Silva, im Halbfinale gesperrt, tröstet Kollege David Luiz (links).Foto: AFP
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WM 2014: Deutschland im Finale: Das weltweite Mitgefühl für Brasilien

Das Spiel zwischen Deutschland und Brasilien war schnell entschieden. Doch das WM-Halbfinale wird auch deshalb in die Geschichte eingehen, weil das Mitleid mit dem deutschen Gegner von Treffer zu Treffer stieg.

Mitleid ist ein starkes Gefühl. Mitleid hat im Sport nichts zu suchen. Weil es die Leistung von Athleten oder Mannschaften schmälert, weil es ihnen Schwäche unterstellt. Wer verliert, möchte in aller Regel kein Mitleid. Am Dienstagabend hatte die Welt Mitleid. Mitleid mit einer brasilianischen Mannschaft. Elf Individualisten standen, lagen oder kauerten da auf dem Rasen des Estadio Minerao von Belo Horizonte. Wie ein Häuflein Elend wirkten sie. Jeder für sich. Alle zusammen. David Luiz, der Verteidiger mit dem Lockenschopf, der den Ball so wuchtig schießen kann wie kaum ein anderer, sank auf die Knie und betete. Viele weinten.

Die deutschen Spieler machten, dass sie vom Feld kamen. Sie verzichteten auf die üblichen, ausgelassenen und nicht selten narzisstischen Posen, mit denen Fußballer gern große Siege feiern. Dabei war das, was die Deutschen da gerade geschafft hatten, etwas Großes, etwas Historisches. Etwas, das Zeiten überdauern wird. Und ja, vielleicht auch etwas, das mehr wert ist, als es ein Pokal je sein kann. Cesar Luis Menotti, der große argentinische Weltmeister-Trainer und Fußball-Philosoph hat einmal gesagt: „Pokale sind für die Vitrine, aber große Spiele, die bleiben für immer im Gedächtnis der Menschen.“ Nach dieser Definition ist der deutschen Mannschaft so ein Spiel gelungen: 7:1 im Halbfinale einer Weltmeisterschaft, dazu noch gegen Brasilien. In Brasilien. Dem Land des Fußballs. Dem Land des Rekordweltmeisters.

Weinende Kinder, kreischende Frauen

Wer vor dem Spiel keine Ahnung hatte, was Fußball den mehr als 200 Millionen Brasilianern bedeutet, der musste während des Spiels nur in die Gesichter der Zuschauer im Stadion schauen. Fernsehkameras sind da gnadenlos, es wird einfach draufgehalten. Weinende Kinder, aus lauter Verzweiflung kreischende Frauen – ganz egal. Hauptsache Drama. Hauptsache starke Gefühle. Doch mit jedem Tor der eigenen Mannschaft wuchs für so manchen deutschen Fan die Scham. Es beschlich einen die Frage: Muss das sein? Reicht es nicht langsam? Die Scham, sie blieb im Raum, bis weit nach dem Abpfiff. Eine solche Gefühlsregung in einem Halbfinale, wann hat es die schon einmal gegeben?

Der Sport hat ein Faible für Dramen, für tragisch scheiternde Helden. In Belo Horizonte gab es auf brasilianischer Seite keine Helden und keine Tragik. Es gab nur ein Drama, geschuldet der surrealen Eindeutigkeit dieses Kräftemessens. Der übertragende Fernsehsender in Deutschland fühlte sich verpflichtet, alle später Hinzugekommenen darauf hinzuweisen, „dass das oben eingeblendete Ergebnis stimmt“. Und doch fühlte es sich unwirklich an. Hinter Brasilien stand eine null, hinter Deutschland eine fünf. Die Uhr zeigte da gerade 30 Minuten an.

In der Wucht der Zahlen liegen die Besonderheit und das historische Gewicht dieses Spiels. 1:7 – nie zuvor wurde eine Mannschaft vor den Augen der Welt und den eigenen Fans so sehr gedemütigt. Nie zuvor versagte eine Elf derart kollektiv im entscheidenden Moment.

Die großen Jahrhundertspiele

Jahrhundertspiel ist ein starkes Wort. Wer im Internet nach dem Wort Jahrhundertspiel sucht, stößt auf Deutschland gegen Italien. Bei der WM 1970 standen sie sich gegenüber, im Halbfinale von Mexiko-Stadt. Verdammt heiß war es an diesem 17. Juni 1970, und verdammt lange ging das Spiel. 120 Minuten Abnutzungskampf lieferten sich beide Mannschaften, in einer Zeit, als nur zwei Wechsel pro Team erlaubt waren. Ihre Erschöpfung machten die 22 Spieler mit schier unbeugsamem Willen wett, am Ende verlor Deutschland 3:4 in einem Spiel, das in der Retrospektive nur Gewinner kennt.

Fotos: dpa
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Die großen Spiele, von denen Menotti sprach, die im kollektiven Gedächtnis der Menschen bleiben, waren alle eng umkämpft und endeten auf dramatische Weise. 1986, wieder in Mexiko, trafen im Viertelfinale der WM Frankreich und Brasilien aufeinander. Es sollte ein zweites Jahrhundertspiel werden, der Sport ist da nicht so genau, er hat die Angewohnheit, Ereignisse mit Superlativen zu verklären. In Guadalajara hieß es Michel Platini gegen Zico. Zwei Magier mit dem Ball, nur einer konnte weiterkommen.

Es wurde ein Offensivspektakel und es erscheint bis heute skurril, dass es nach 120 Minuten nur 1:1 stand. Das lag auch daran, dass ausgerechnet Zico im entscheidenden Moment die Nerven am Elfmeterpunkt versagten. So wie den Ungarn die Nerven versagt hatten, als sie, hochüberlegen, den Deutschen im WM-Finale von 1954 mit 2:3 unterlagen. „Das Wunder von Bern“ war geboren. Und manchmal hatte beim Fußball sogar der liebe Gott seine Hand im Spiel. Etwa, als der unvergleichliche Diego Maradona zuerst die Hand statt den Kopf zur Hilfe nahm, um ein Tor zu erzielen. Später umkurvte er die Engländer noch wie Slalomstangen – Argentinien schlug England 2:1.

Auch auf Klubebene gab es diese unvergesslichen Spiele. Bayern Münchens dramatische Niederlage im Champions League Finale von 1999, als die Mannschaft in der Nachspielzeit noch zwei Gegentore bekam und verlor. Oder der Sieg des FC Liverpool, der 2005 gegen die Defensivmaschine des AC Mailand heroisch einen Drei-Tore-Rückstand aufholte.

Die großen Klassiker waren spannend und endeten dramatisch

Sich auf eine Rangliste der besten Fußballspiele festzulegen, macht in etwa so viel Sinn wie zu behaupten, eine Nation hätte da dieses eine Lieblingsgericht. Jeder hat seine Vorlieben, die Wahrnehmung ist höchst subjektiv. Eines hatten jedoch alle Spiele gemein, die zu den Klassikern zählen: Sie waren unheimlich spannend, unheimlich ausgeglichen und endeten meistens auf dramatische Weise. Mitleid kam nicht auf, eher Bewunderung für die Sieger und Anerkennung für die Verlierer. Dann kam das erste Halbfinale der WM 2014.

Nichts hatte im Vorfeld auf solch ein Ergebnis hingedeutet. Fußballspiele zwischen Brasilien und Deutschland, zwischen diesen Großmächten dieser Sportart, verlaufen in der Regel ausgeglichen. Dieses Mal aber war es so einseitig wie ein Spiel zwischen Profis und Amateuren. Die Brasilianer so hilflos zu sehen, erfüllte viele Menschen spätestens nach dem vierten deutschen Tor mit Scham. Da war es wieder, das Mitleid.

Brasilianer kamen mit dem Druck nicht zurecht

Es war wie ein Boxkampf, bei dem ein Boxer immer weiter auf den anderen eindrischt, obwohl der längst wehrlos am Boden liegt. Beim Boxen gibt es einen Ringrichter, der in diesem Moment abbricht. Beim Fußball gibt es diese Möglichkeit nicht. Würde das Regelwerk über eine solche Option verfügen, Schiedsrichter Rodríguez aus Mexiko hätte das Spiel wohl spätestens zur Halbzeit beendet. Brasiliens Verteidiger Marcelo hatte Tränen in den Augen, als er nach 45 Minuten in die Kabine schlich. Wettbewerbsfähige Sportler sehen anders aus.

Im Nachhinein betrachtet waren diese 23 Fußballer, die Trainer Luiz Felipe Scolari vor der WM ausgesucht hatte, nie wettbewerbsfähig. Sie kamen mit dem Druck nicht zurecht, der auf ihnen lastete. Sie wollten zu Hause den sechsten WM-Titel holen und zerbrachen daran. Anders sind die vielen Tränen, die sie während des Turniers vergossen, nicht zu erklären. Sie werden jetzt mit der historischen Schmach leben müssen in einem Land, das seinen Fußballern kein Scheitern verzeiht. Das Fußballland Brasilien ist nicht mehr dasselbe nach diesem 8. Juli 2014.

Freude über Finaleinzug war nicht überschwänglich

Vor 64 Jahren fand schon einmal eine Fußball-WM in Brasilien statt, auch damals gab es ein historisches Scheitern. Die Niederlage im entscheidenden Spiel gegen den kleinen Nachbarn Uruguay fand in den brasilianischen Wortschatz unter dem Namen Maracanaço Eingang und bezeichnete die größtmögliche Schmach. Nach dem 1:7 gegen Deutschland titelte die spanische Zeitung „El Pais“: „Maracanaço war ein Witz“. Was ist schon ein 1:2 gegen Uruguay, verglichen mit einem 1:7 gegen Deutschland?

Nach dem Spiel sagte der deutsche Verteidiger Mats Hummels einen bemerkenswerten Satz auf die Frage, warum er und seine Kollegen nicht ausgelassen feiern würden: „Wir wussten ja bereits seit einer Stunde, dass wir ins Finale einziehen werden. Da war die Freude nicht mehr ganz so überschwänglich.“ Auch das war, gemessen an der Bedeutung des Spiels, historisch.

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