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Ein Macher. Andreas Rettig ist nicht mehr Geschäftsführer vom FC St. Pauli.
© Lukas Schulze/dpa

Andreas Rettig im Interview: „Das war nochmal ein echter emotionaler Höhepunkt“

Andreas Rettig über seinen Abschied vom FC St. Pauli, sein letztes Heimspiel gegen den HSV, gehäkelte Schlümpfe und Nachhaltigkeit im Fußball.

Von David Joram

Am Montag (23.9.) endete die Zeit von Geschäftsführer Andreas Rettig, 56, beim Zweitligisten St. Pauli. Er gilt laut "Kicker" als Querdenker im Profi-Fußballgeschäft. In leitender Funktion war Rettig vor St. Pauli noch in Freiburg, Augsburg, Köln und bei der Deutschen Fußball-Liga tätig. Wir haben mit ihm gesprochen.

Herr Rettig, an diesem Montag ist Ihr letzter Arbeitstag als Geschäftsführer des FC St. Pauli. Sie ziehen aus privaten Gründen nach Köln. Wie fällt Ihre Bilanz nach vier Jahren St. Pauli aus?
Ich habe ausgerechnet, dass es in dieser Zeit 54 Siege und nur 53 Niederlagen für den FC St. Pauli gab. Also ist die Bilanz ganz klar positiv.

Und was war nicht so positiv?
Bei den falschen Entscheidungen, die ich getroffen habe, würde ich keine als besonders erwähnenswert hervorheben. Ich würde eher sagen, dass es einige Dinge gab, die ich verpasst habe, noch stärker anzustoßen.

Zum Beispiel?
Ich finde es bedauernswert, dass bei so genannten Hochrisikospielen wie zuletzt gegen den HSV die Gäste außerhalb ihres Fanbereichs nicht ihre Farben, Schals und Trikots tragen dürfen. Da hätte ich mir gewünscht, dass wir eine Willkommenskultur im Stadion auch für gegnerische Fans schaffen – aber das ist dann doch zu viel Gefühlsduselei.

Mal abgesehen davon, dass ein HSV-Fan vermutlich nicht so gern im St.-Pauli-Block steht: Halten Sie eine Durchmischung verfeindeter Fanlager wirklich für sinnvoll?
Wir spielen vor jedem Spiel die Hymne des jeweiligen Gegners und haben einen hohen Anspruch an uns. Da sollten wir versuchen, mit diesem Thema besser umzugehen. Und ich meine jetzt nicht, dass der HSV-Fan direkt in den Block der St.-Pauli-Ultras soll. Aber wir haben ja auch andere Bereiche, in denen das durchaus möglich wäre.

Ihr letztes Heimspiel als Geschäftsführer des FC St. Pauli war ein 2:0-Sieg gegen den HSV vor einer Woche. Stellt man sich so den perfekten Abschied vor?
Exakt so! Das war nochmal ein echter emotionaler Höhepunkt zum Abschluss von vier bewegten Jahren.

Wie haben Sie den Schlusspfiff gegen den HSV erlebt?
Ich bin zuerst meiner Frau um den Hals gefallen, die bei Heimspielen immer neben mir sitzt. Und dann wurden alle, die sonst noch in Reichweite waren, geherzt und gedrückt. Das war schon ein großartiger Sieg, weil er am Ende auch verdient war. Auch die Atmosphäre war unglaublich knisternd und positiv, das hat am Ende auch getragen.

In beiden Fanlagern wurde – ähnlich wie beim Derby im März – reichlich Pyrotechnik abgebrannt. Stimmt Sie das Ergebnis diesmal milde?
Nein. Das waren in beiden Fanlagern wieder geplante Aktionen, die mit dem Spielausgang nichts zu tun haben. Ich will es aber mal so formulieren: Wir haben uns alle, auf und neben dem Platz, im Vergleich zum letzten Derby verbessert. Es ist aber auch noch Luft nach oben.

Pyrotechnik auf Pauli. Im Derby zwischen den beiden Hamburger Klubs war mächtig Feuer und Dampf drin.
Pyrotechnik auf Pauli. Im Derby zwischen den beiden Hamburger Klubs war mächtig Feuer und Dampf drin.
© Daniel Bockwoldt/dpa

Axel Prahl, der den Kommissar im Münsteraner Tatort spielt, war auf Ihre Einladung hin auch beim Spiel. Freuen Sie sich schon auf eine Gegeneinladung mit Gastrolle?
Das wäre natürlich eine tolle Sache. Ich würde gerne einen Profifußballer spielen, der zu Ruhm und Ehre gekommen ist. Das war immer mein Traum, den ich mangels Talent leider nie realisieren konnte.

Herr Prahl ist also Ihre letzte Chance. Woher kennen Sie sich?
Der frühere St.-Pauli-Präsident Corny Littmann hat uns vor Jahren bekannt gemacht, seither schätze ich Axel sehr, weil er die St.-Pauli-Fahne immer hochhält. Vor einem Jahr rief er mal bei mir an und sagte, er hätte einen Schlumpf geschenkt bekommen.

Einen Schlumpf?
Einen St.-Pauli-Schlumpf, gehäkelt von einer älteren Dame und verschickt mit ein paar netten Worte. Axel rief also an und fragte, was er damit nun machen solle.

Was haben Sie ihm geraten?
Ich hab’ mir ein Handybild von dem Schlumpf schicken lassen, der ganz nett aussah, und einen Deal vereinbart: Wenn diese Figur im nächsten Tatort eine Rolle spielt, bekommt sie einen Ehrenplatz im Stadion. Darauf Axel zu mir: „Alles klar!“ Danach habe ich von ihm lange nichts mehr gehört – bis vor ein paar Monaten eine Kiste mit Schlumpf und Zettel nach Hamburg geschickt wurde.

Was stand denn auf dem Zettel?
Nur das: „Ich hab meinen Teil der Abmachung erledigt, dein Axel.“ Und beim nächsten Tatort – ich bin ein großer Tatort-Fan – kommt die Szene, wie Axel den Schlumpf auf seinen Stuhl im Büro setzt und sagt: „Nur dass ihr es wisst: Ich geh’ jetzt in Urlaub. Der Kollege vertritt mich hier.“ Das war überragend! Der Schlumpf hat kurz danach seinen Platz am Eingang zur Geschäftsstelle bekommen.

Man kennt sich. Andreas Rettig mit Pauli-Fan Axel Prahl (l.).
Man kennt sich. Andreas Rettig mit Pauli-Fan Axel Prahl (l.).
© promo

Herr Rettig, St. Pauli gilt immer noch als der etwas andere Klub. Was heißt das im modernen, kapitalorientierten Fußball?
Wir erlauben uns den Luxus, dass wir den Stadionnamen nicht verkaufen, dass wir unsere Profimannschaft nicht in eine Kapitalgesellschaft ausgliedern. Wir haben – anders als andere Klubs, die finanzielle Gründe anführen – unsere zweite Mannschaft nicht abgemeldet. Wir spielen in einem eigenen Stadion, das derzeit noch mehr Kapital bindet, als ein Stadion, in dem man zur Miete spielt und das der Stadt gehört. Wenn ich das alles zusammennehme, sind das nicht unerhebliche wirtschaftliche Nachteile unseren Wettbewerbern gegenüber.

Geld, das auf anderen Wegen wieder reingeholt werden muss.
Ja, denn sonst wird es schwierig, dann kippt es soweit, dass man nicht mehr wettbewerbsfähig ist. Man muss also immer austarieren, Abwägungsprozesse eingehen. Was ist uns heilig? Und wo können wir noch Kompromisse eingehen?

Für Ihren Deal mit dem Ausrüster Under Armour wurden Sie vielfach kritisiert. Das Unternehmen stattet unter anderem das US-Militär aus.
Es gab da hitzige Diskussionen, denen man sich in einem demokratisch geführten Verein stellen muss; wobei mir das Thema ein bisschen zu sehr hochgekocht wurde. Das Adidas die Bundeswehr ausstattet, sei hier nur am Rande erzählt.

Rettig: „Wir brauchen ökologische Regeln“

Grübelt gern. Rettig denkt viel über Fußball nach und darüber hinaus.
Grübelt gern. Rettig denkt viel über Fußball nach und darüber hinaus.
© Axel Heimken/dpa

Auch beim 1. FC Union fragt der kritische Teil der Fans, wie sehr der Klub vom Geld des Investors Quattrex abhängig ist. Besteht die Gefahr, dass ein Klub zu viel will – sich selbst treu bleiben und erfolgreich sein?
Ich denke, dass Präsident Dirk Zingler ein kluger Entscheider ist, er hat die Union-DNA verinnerlicht. Dass auch er abgewogen hat und abwägen muss, ist für mich klar. Nur: Wenn er zu seinen Ergebnissen kommt, steht es mir aus der Ferne nicht zu, diese als richtig oder falsch zu werten. Ich weiß, wie schwer das ist und werbe deshalb für ein gewisses Grundvertrauen, das die Fanszene den Entscheidern entgegenbringen muss.

Sie sagten vorhin, Sie würden gerne einen Profifußballer im Tatort spielen. Warum eigentlich keinen Manager?
Als Spieler hat man es am besten, man muss sich nur um die schönste Nebensache der Welt kümmern, um sonst nichts. Als Trainer oder Manager muss man noch ganz andere Sachen im Blick haben, das kann anstrengend sein.

Warum haben Sie sich für einen Job im Fußball-Management entschieden?
Meine sportliche Karriere, die mich ja nur in die damals dritthöchste Liga geführt hat, war schon mit Mitte 20 beendet. Ich habe dann relativ früh die Fußballlehrer-Lizenz erworben und wollte eigentlich Trainer bei Rot-Weiß Essen werden.

Wieso gerade Rot-Weiß Essen?
Das ist bis heute mein Lieblingsverein, ich bin zahlendes Mitglied. Jedenfalls lag mir Mitte der Neunziger ein Angebot vor, was ich meinem damaligen Chef und Mentor, Reiner Calmund, auch mitgeteilt habe. Ich war damals sein Assistent in Leverkusen.

Wie hat Calmund reagiert?
Traineramt ist nichts für dich, hat er gesagt: Aber wenn du Fußballmanager werden willst, kann ich dir helfen. Um seine Meinung zu bekräftigen, setzte er sich auf meinen Schoß. Sie können sich vorstellen, wie schnell das Gespräch in die von Calmund gewünschte Richtung lief.

Sie haben in Freiburg, Augsburg, Köln, der Deutschen Fußball-Liga und nun bei St. Pauli in leitender Position gearbeitet. Würde Sie eine Aufgabe bei Bayern, Dortmund oder vielleicht Leipzig nochmal besonders reizen? Ein ganz großer Klub fehlt Ihnen schließlich noch.
Ich habe meine Entscheidung, wo ich arbeite, nie von der Spielklasse abhängig gemacht. In Augsburg bin ich an Bord gegangen als der Verein in der Dritten Liga spielte. Ich weiß noch genau, wie müde ich in Köln belächelt wurde, als das publik wurde. Die Fragen waren für mich immer: Mit welchen Leuten habe ich zu tun? Welche Perspektiven hat der Klub? Die Champions-League-Musik war für mich nie entscheidungsrelevant.

Herr Rettig, Sie sind zuletzt beim Thema Ökologie öffentlich vorgeprescht. Sie fordern mehr Nachhaltigkeit im Profifußball. Warum erst jetzt?
Ich beschäftige mich schon lange damit. In Freiburg waren wir mit dem Vordenker Volker Finke die Ersten mit Solaranlagen auf dem Dach; die Fußballschule wurde mit einer Holzhackschnitzelanlage beheizt. In Augsburg haben wir das Stadion CO2-neutral gebaut, obwohl wir erhebliche Mehrkosten hatten. Ich interessiere mich also nicht erst für Ökologie, seitdem Greta durchs Land zieht.

Wenn es am schönsten ist. Bei seinem letzten Heimspiel feierte Andreas Rettig einen Derbysieg gegen den HSV.
Wenn es am schönsten ist. Bei seinem letzten Heimspiel feierte Andreas Rettig einen Derbysieg gegen den HSV.
© Daniel Bockwoldt/dpa

Sie haben das jedenfalls bei St. Pauli recht spät auf die öffentliche Agenda gesetzt.
Wir haben viele Dinge umgesetzt, etwa Elektroladestationen im Stadion gebaut, Bienenvölker angelegt, wir haben eine Solaranlage auf dem Dach, haben Plastiktüten aus dem Fanshop verbannt, Verbesserungen bei der Herstellung unserer Merchandising-Artikel erzielt. Ich finde: Erstmal die eigenen Hausaufgaben machen und danach drüber reden – nicht umgekehrt. Sonst ist es Plapperei.

Die „taz“ hat in einem Interview mit Ihnen angemerkt, Bienenvölker brauche man für sportlichen Erfolg nicht. Wen können Sie von der Notwendigkeit eines klimafreundlichen Fußballs denn überzeugen?
Klubs wie Mainz, Augsburg, Hoffenheim oder Freiburg haben sich schon klar und zeitnah positioniert, andere haben sicher noch Nachholbedarf, die Verbände leider auch. Ökologische Regeln zur Auflage für eine Bundesliga-Lizenz zu machen, interessiert derzeit leider noch niemanden. Da würde ich mir mehr Engagement von den Verbänden wünschen, die den Vereinen klare Regeln und Vorgaben setzen sollten. Freiwilligkeit wird nicht funktionieren. Vielleicht bringt der neue DFB-Präsident Fritz Keller das Thema voran.

Und dann werden alle Profis die S-Bahn nach einem Heimspiel nehmen – so wie Unions Neven Subotic?
Grundsätzlich geht es darum, ein Bewusstsein zu schaffen. Wir leben in einer Zeit, in der 15-Jährige für ökologische und soziale Themen protestieren. Dem sollten wir uns nicht verschließen. Wenn diese Generation Z dem Fußball glaubwürdig abnimmt, dass er sich um diese Themen kümmert, wird auch eine andere Verbindung entstehen. Die Branche hat mit einer emotionalen Entfremdung zu kämpfen.

Was meinen Sie damit?
Wir sind heute dabei, dass Klubs in zehn Jahren viermal den Stadionnamen verkaufen. In den Klubs sind kapitalkräftige Gesellschafter hinzugekommen, die zum Teil Mitglieder verdrängt haben. Damit haben sich auch Interessenslagen und Ausrichtungen verschoben. Das kann dazu führen, dass der eine oder andere sich möglicherweise mit seinem Verein nicht mehr vollumfänglich identifiziert.

Und diejenigen wollen Sie mit Klimapolitik zurückgewinnen?
Wenn wir unsere Zielgruppe von heute, morgen und übermorgen richtig ansprechen, wird das helfen. Die Bundesliga wäre dann noch fanfreundlicher, sozialer, ökologischer und nachhaltiger. Aktuell liegt der Schwerpunkt aber auf Umsatzsteigerung. Und warum machen wir das? Damit die Steaks der Spieler bald nicht mehr golden, sondern platinbeschichtet werden? Diesen Weg halte ich für schwierig.

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