Nationalspielerin wechselte von Turbine: Das neue Fußball-Leben der Tabea Kemme bei Arsenal
"No risk, no fun" lautet Kemmes Lebensmotto. Im Sommer wagte sie den Schritt nach London - und ist glücklich darüber. Trotz einer langwierigen Verletzung.
Mitte Oktober, die Frauen von Arsenal treten zum Derby bei Chelsea an. Es geht vom Norden Londons weit in den Südwesten. Tabea Kemme holt ihren VW-Bus, Baujahr 1976, aus der Garage, sammelt einige Mitfahrerinnen ein und macht sich auf den Weg. „In London ist der Verkehr immer katastrophal“, sagt Kemme, „aber mit dem Bulli ist es trotzdem sehr amüsant, durch die Stadt zu fahren.“ Kemme kann sich den Luxus dieser individuellen Anfahrt leisten. Sie steht wegen ihrer Verletzung nicht im Kader, das 5:0 von Arsenal erlebt sie auf der Tribüne. Erst nach dem Abpfiff geht sie kurz zu ihren Teamkolleginnen. An dieses Prozedere hat sie sich mittlerweile gezwungenermaßen gewöhnt.
Im Februar 2018 war bekanntgeworden, dass Kemme Turbine Potsdam nach zwölf Jahren verlässt. Den neuen Verein verriet sie zu dem Zeitpunkt noch nicht. Im März der Schock, Knorpelschaden im Knie, monatelange Pause. Kemme meldete sich sofort bei Arsenal. Die Reaktion beeindruckte sie: Wir wollen dich trotzdem, wir unterstützen dich.
Seit Sommer schuftete sie bei Arsenal für das Comeback. Anfang November, fast acht Monate nach der Diagnose, der Lohn: Einwechslung kurz vor Schluss im Spiel gegen Birmingham City. „Es war ein unglaublich schönes Gefühl, zu wissen, dass sich die Arbeit gelohnt hat“, sagt Kemme nun. Das Jahr schien doch noch ein gutes Ende für sie bereitzuhalten. Doch das Hochgefühl dauerte nur zwei Wochen. „Ich habe das Knie gespürt“, erinnert sie sich. Neue Untersuchung, nächster Tiefschlag – und diesmal einer, der saß: Es hatten sich Knochenödeme gebildet. Bis Jahresende konnte Kemme nur warten. Das war die schwerste Zeit der Verletzungsphase.
Silvester verbrachte sie in Berlin, feierte mit Freunden aus ihrer Schulzeit. Ein paar Tage ohne Fußball. Ohne große Gedanken an die Verletzung. Ihr Fazit des Jahres spricht sie sachlich aus, ohne Bitterkeit: „2018 war für mich ein Jahr zum Streichen. Das schlimmste Jahr meiner sportlichen Laufbahn.“
Aus 125 Metern in die Tiefe
Fußball bestimmt Kemmes Leben seit ihrer Jugend, aber ist nicht alles für die 27-Jährige. Dass sie für ihr Hobby Geld bekommt, „empfinde ich als Luxus“, hat sie einmal gesagt. Sie sucht immer das Abenteuer, ist beispielsweise schon zweimal an einer Seilwinde von einem Hotel in Berlin-Mitte 125 Meter in die Tiefe gesprungen. Passend dazu lautet ihr Lebensmotto „No risk, no fun“. Wobei sie sich mittlerweile ein bisschen zurückgenommen habe. Das Knie, klar. „Aber ich bin ja auch keine 22 mehr.“
Zum Abschied bei Turbine bekam sie Anfang Juni ein Trikot geschenkt mit der Aufschrift „4383 Tage Potsdam“. Im Klub war sie von der Nachwuchs- zur absoluten Führungsspielerin gereift, hatte vier deutsche Meistertitel und die Champions League gewonnen. In der Nationalmannschaft hat sie bislang fast 50 Einsätze absolviert, holte mit den DFB-Frauen 2016 Olympiagold. Die Frage war irgendwann: Noch bis zum Karriereende weitermachen in der Wohlfühloase Turbine oder etwas Neues wagen? Noch einmal diejenige sein, die sich durchsetzen muss. Kemme, die in der Abwehr und im Angriff spielen kann, entschied sich für letzteres. No risk, no fun. „Es ist gut, dass ich den Schritt zu Arsenal gemacht habe“, sagt Kemme, „andernfalls hätte ich es immer bereut.“ Sie ist Kommissarin, wurde für zwei Jahre vom Polizeidienst freigestellt und ging gemeinsam mit Teamkollegin Lia Wälti nach London. Mit ihr wohnt sie in einem kleinen vom Verein zur Verfügung gestellten Haus in St Albans, einem Vorort nicht weit vom Trainingszentrum. „Kein Luxus, aber sehr gemütlich“, sagt Kemme.
Sie stammt aus der Nähe von Cuxhaven, ist auf einem Bauernhof groß geworden. In der Metropolregion London leben knapp 15 Millionen Menschen. „Ich bin froh, dass ich nicht mitten im Zentrum wohne“, sagt Kemme. Sie schätzt es aber, mit öffentlichen Verkehrsmitteln in gut 30 Minuten am U-Bahnhof Oxford Circus zu sein. So wie sie sich in Potsdam sehr wohl fühlte und gleichzeitig die Nähe zu Berlin mochte. Eins von Kemmes größten Erlebnissen im ersten halben Jahr in London war das Spiel von Arsenals Männern gegen den FC Liverpool. Besonders die Atmosphäre rund ums Stadion vor dem Anpfiff in den Pubs.
Trainingsplätze in einem "Wahnsinnszustand"
In England steigt der Stellenwert des Frauenfußballs seit einigen Jahren stetig, 2021 findet dort die Europameisterschaft statt. Die großen Vereine investieren in die Frauenabteilungen. Arsenal, Liverpool, Manchester City oder Everton sind alle in der Super League vertreten. Bei Turbine spielte Kemme bereits mit vielen Nationalspielerinnen zusammen, bei Arsenal ausschließlich. Und erst die Bedingungen. „Alle Trainingsplätze sind in einem Wahnsinnszustand“, sagt Kemme. Passend zu einem Verein mit Weltruf. Nicht vergleichbar mit dem Rasen im Karl-Liebknecht-Stadion oder dem Stadion am Luftschiffhafen, wo Turbine trainiert. Und, für sie derzeit besonders wichtig, die Arbeit der medizinischen Abteilung sei vom ersten Tag an großartig gewesen.
Von der Prämie für den Olympiasieg kaufte sie sich den Bulli und ließ ihn umbauen. Der Bus ist auch in London schon bekannt, Arsenal sendete im Vereins-TV einen Beitrag und das Sicherheitspersonal am Trainingsgelände freut sich stets, wenn Kemme vorfährt. Sie rollt danach an den Nobelkarossen der männlichen Arsenal-Profis vorbei und parkt auf dem Parkplatz des Frauen-Teams. Kontakt zu den Spielern gebe es, vor allem im Vier-Augen-Gespräch „sind die alle sehr nett“.
Arsenals Frauen spielen bisher eine grandiose Saison, sie sind Tabellenführer und der erste Titel seit 2012 ist möglich. „Es macht schon von draußen großen Spaß zuzusehen. Ich freue mich darauf, wenn ich endlich mitspielen kann.“ Eine MRT-Untersuchung kurz vor Jahresende hat ihr Mut gemacht. Es ist noch ein sehr weiter Weg, aber sie hat sich ein Ziel für die Rückkehr in die Mannschaft gesetzt: März. „Dann ist ja auch mal genug mit der Verletzung.“ An alles weitere, zum Beispiel die WM im Juli in Frankreich, denkt sie überhaupt nicht.
Am Sonntag spielt Arsenal erst einmal das Derby bei West Ham United. Kemme wird wieder Zuschauerin sein. Anreisen wird sie diesmal ohne Bulli. Der bleibt im Winter in der Garage.
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