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Eine Stadt im Fußball-Wahn. Polizeibeamte beobachten am Boxhagener Platz den Abzug von Hertha-Fans auf ihrem Weg zum Fußballspiel gegen Union in Köpenick.
© Paul Zinken/dpa

Derbys im Fußball: „Das kann zum Wandel der Stadt beitragen“

Sportpsychologe Matthias Herzog über die mentale Bedeutung von Derbys, die aufgeladene Stimmung in solchen Spielen und die besondere Konstellation in Berlin.

Herr Herzog, warum sind Derbys eigentlich so brisant?

Bei einem Derby spielt das Thema der Rivalität eine große Rolle, nach dem Motto: Wer ist der Stärkere bei uns in der Stadt oder in der Region? Wem gehört die Stadt? Wer ist der Platzhirsch? Genau das ist es , was für alle diese besondere Situation ausmacht und warum die Stimmung so hochkocht.

Hat sich das mit der Zeit verändert?

Früher waren Derbys noch einzigartiger. Das liegt auch daran, dass im Laufe der Zeit verschiedene Wettbewerbe dazu kamen, wie beispielsweise der Pokal oder die Champions und Europa League. Daher finden Derbys wie Dortmund gegen Schalke heute häufiger statt. Dennoch nimmt bei den Derbys leider auch die Gewalt zu. Die erhöhte Gewaltbereitschaft führt zu immer mehr Ausschreitungen. Auch beim Derby von Hannover gegen Braunschweig wird zum Beispiel zunehmend Hass geschürt. Die Rivalität spürt man aber nicht nur bei den Fans, sondern teilweise auch bei den Trainern.

Tragen Trainer und Teams also dazu bei, dass die Stimmung schon mal in Gewalt umschlägt?

Das hängt viel damit zusammen, wie das mediale Auftreten ist – also wie das Derby von Seiten der Mannschaften kommuniziert wird. Man kann es entweder ganz handzahm halten oder wie es oft der Fall ist, anfänglich einen Spruch fallen lassen. Das kennt man zum Beispiel auch vom Duell der Bayern mit Dortmund. Direkt vor dem Spiel haut Bayern-Präsident Uli Hoeneß ja immer mal noch eine Aussage raus. Plötzlich wird dann gesagt, dass die Bayern Interesse an einem Dortmunder hätten oder es die Dortmunder ohne Bayern-Unterstützung gar nicht mehr gäbe. Bei anderen Mannschaften ist das ähnlich. Es wird bewusst die Aufmerksamkeit genutzt, weil man weiß, dass der Fan meistens der zwölfte Mann ist. Solche Dinge werden vor einem Spiel strategisch gesetzt, um gezielt die Rivalität, Bedeutung und Brisanz des Spiels zu erhöhen und die Fans zu motivieren.

Das lenkt doch aber wahrscheinlich noch mehr vom eigentlichen Geschehen auf dem Feld ab.

Einerseits ist es ein Spiel, andererseits aber auch ein Wettkampf. Einige sprechen dann ja auch davon, dass es um Leben oder Tod geht. Das kann man ein wenig mit dem Darwin-Prinzip vergleichen, der Stärkste überlebt. Bei einer Niederlage traut sich einer aufgrund der höheren Aufmerksamkeit vielleicht gar nicht mehr, durch die Straßen zu laufen.

Überträgt sich die aufgeladene Stimmung bei Derbys denn wirklich auf die Spieler?

Es ist tatsächlich von Vorteil, wenn sich die Spannung auch auf die Spieler überträgt, gerade was die Leitungsfähigkeit betrifft. Zumindest wenn es positive Energie ist. Natürlich kann sie sich auch negativ auswirken. Wer sich zu sehr unter Druck setzt, kann verkrampfen. Es gibt immer zwei Seiten. Wichtig ist, die Energie zu kontrollieren.

Der Spruch, dass Fußball im Kopf entschieden wird, stimmt demnach?

Gewonnen und verloren wird tatsächlich zwischen den Ohren. Das ist gerade im Spitzenbereich fast zu 80 Prozent der Fall. Und da spielt es eine große Rolle, wie ich meine Kräfte vernünftig lenken kann, um Topleistungen abzurufen. Da kommt ein Derby natürlich nochmal erschwerend dazu. Deshalb wird bei Derbys selten der beste Fußball gespielt. Zumal diese Spiele oft auch taktisch geprägt sind, weil sich keiner früh ein Gegentor einfangen möchte. Häufig ist es so, dass solche Spiele entweder ganz knapp oder ganz deutlich ausgehen.

Wie können sich die Spieler darauf vorbereiten?

Die Spieler müssen auf jeden Fall Lust haben. Mit Spaß und Freude geht alles leichter von der Hand. Das geht aber meistens verloren. Denn oft wird der Fokus auf andere Dinge gelenkt, zum Beispiel auf besondere Taktiken oder Feindbilder, die geschürt werden. Es geht aber einfach darum, dass sie sich freuen und sich vorstellen können, wie es sein wird, wenn man gewinnt. Dann wird man vielleicht von 60 000 Menschen im Stadion gefeiert, die alle nur den Namen der Mannschaft rufen und anschließend wird man im Fernsehen als Held dargestellt. Den Spielern muss aber trotzdem klar sein, wie es sein wird, wenn sie verlieren. Was sie für Häme aushalten müssen und was dann über sie geschrieben wird.

Welche Rolle kommt den Trainern zu?

Die Trainer besitzen eine sehr wichtige Rolle. Dabei ist es natürlich von Vorteil, wenn das Verhältnis zwischen Spielern und Trainer passt. Es gibt aktuell einige Teams, bei denen es zwischen Mannschaft und Trainer zu rumoren scheint, wie beispielsweise beim BVB unter Lucien Favre oder bei Bayern unter Niko Kovac. Der Trainer ist durch seine Art der Kommunikation ganz wichtig. Er muss die Spieler individuell abholen und nicht einfach alle auf die gleiche Art motivieren, denn jeder Spieler ist unterschiedlich in seiner Persönlichkeit. Damit hat der Trainer eine große Macht und Bedeutung und nimmt einen sehr großen Einfluss auf das Spiel. Bei einigen Mannschaften habe ich aktuell das Gefühl, dass sie trotz des Trainers gewinnen und nicht wegen des Trainers.

Wie geht ein klarer Favorit in ein Derby?

Besonders die Spieler des favorisierten Teams haben dadurch einen großen Druck und haben bildlich gesprochen einen schweren Rucksack zu schleppen, während die Gegner bildlich gesprochen ohne Rucksack unterwegs sind. Das hilft diesen damit lockerer umzugehen. Einige brauchen aber auch den Druck, gerade wenn es dominantere Menschentypen sind. Ob es jetzt ein Lewandowski ist oder auch damals ein Kahn war, beide lieben solche Spiele und lieferten und liefern dementsprechend häufig auch am besten ab. Sie leben für solche Spiele.

Gibt es bei solchen Spielen einen Heimvorteil? Oder steigert es eher den Druck auf die Spieler, wenn sie zu Hause antreten?

Das ist spannend, denn es kann beides passieren. Es kann sein, dass sich die Spieler davon nochmal mehr unter Druck gesetzt fühlen, da sie vor den eigenen Fans besonders gut abschneiden wollen. Andererseits haben sie tatsächlich den zwölften Mann, daher sollte das normalerweise eher beflügeln. Auch hier ist erneut der Trainer gefordert, der den Spielern ganz klar machen sollte: „Die Fans sind für euch da, die unterstützen euch, die geben alles für euch, die werden euch den Ball schon in das Tor schreien.“

Kann man sich von der Drucksituation befreien?

Das Wichtige ist, dass miteinander kommuniziert wird. Bei vielen Mannschaften, auch in der Fußball-Bundesliga, ist zu sehen, dass zu wenig miteinander gesprochen wird. Doch die Kommunikation ist extrem wichtig auf dem Platz. Es geht darum, sich gegenseitig anzufeuern, gegenseitig zu pushen und auch Fehler schnell abhaken zu können. Natürlich geht es aber auch darum, lösungsorientiert zu spielen. Außerdem sollte man den Spielern klar machen, dass sie einfach ihr Bestes geben sollen. Denn das Schöne ist, wenn wir unser Bestes geben, brauchen wir uns niemals Vorwürfe zu machen, selbst wenn wir am Ende glatt verlieren. Wir wissen dann: An dem Tag war nicht mehr drin.

Der 1. FC Union und Hertha BSC sind in der Bundesliga noch nie aufeinandergetroffen. Was könnte sich für beide Klubs jetzt ändern?

Es wird ein neues Kapitel geschrieben, das sind leere Seiten, die die Spieler beschreiben. Es ist natürlich schon aufregend für Berlin, denn es gab bisher noch keine richtigen Derbys. Wegen der fehlenden Erfahrung lassen sich die Spiele noch gar nicht einschätzen. Das ist ein zusätzliches Überraschungsmoment, das zu einer Verkrampfung der Situation führen kann. Erfahrungen in dem Bereich wären sicher von Vorteil. Das ist ähnlich wie bei einem Pokalspiel, das sind besondere Momente, die ihre eigenen Spielregeln haben. Umso wichtiger ist es, die ganze Zeit klar konzentriert und immer enorm wachsam zu sein.

Wie prägend ist ein Sieg oder eine Niederlage für die Zukunft einer Mannschaft?

Das hängt letztlich davon ab, wie man es nach dem Spiel verkauft. So gesehen ist das wieder Marketing in der Psychologie. Beim Gewinner trägt so ein Moment in die Zukunft, indem man immer wieder betont „wir haben gewonnen, wir sind die Besten hier. Jetzt können wir auch die Saison gut gestalten“. Ein Sieg in einem emotional aufgeladenen Spiel ist ein Leistungsverstärker, ein Mythos, der am Leben gehalten werden muss. Verliert hingegen die Mannschaft, geht es darum, die Bedeutung des Spiels durch entsprechende Aussagen abzuschwächen. Gängige Formulierungen sind dann „es war ein Spiel wie jedes andere“ oder „so wichtig war es nun auch nicht“. Die Interpretation trägt viel zur Bewältigung des Spiels bei. Beim Fan und beim Spieler. Ein verlorenes Spiel wirkt sich auf das Selbstvertrauen aus. Die große Herausforderung ist, wenn man als Verlierer vom Platz geht, das Ganze schnell wegzustecken. Geschicktes Storytelling, also Geschichten erzählen, hilft dabei, unbefangen und konzentriert ins nächste Spiel zu gehen.

Wie kann sich ein Derby auf Berlin auswirken?

Ein emotional aufgeladenes Derby kann zum Wandel der Stadt beitragen. Fußball rückt ins Zentrum der Hauptstadt und stiftet Identität. Es zeigt sich, dass auch die Kleinen mit Leidenschaft und Emotion etwas erreichen und mithalten können. Auch ohne einen Geldgeber, der viel in den Verein investiert. Dass bei dem Derby zwei Teams mit unterschiedlicher Historie und Tradition zusammentreffen, verstärkt die Bedeutung für die Stadt. Die beiden Vereine machen die Seele des einst geteilten Berlins sichtbar.

Zeigt sich an Berlins Derbys eine geteilte Stadt, oder eint es sie eher?

Auch hier kommt es stark darauf an, wie das Medienecho ist. Wird als großes Thema Ost gegen West kommuniziert, wird die Botschaft des Derbys gezielt in eine rivalisierende Richtung gelenkt. Dann dreht sich vieles wieder um das Motto: „Ihr seid Wessis, ihr dagegen seid Ossis.“ Das merkt man ja leider auch noch nach 30 Jahren, in Berlin, aber auch in Gesamtdeutschland. Gleichzeitig kann man durch das 30-jährige Mauerfalljubiläum perfekt sagen, dass ein Derby dieser Art früher gar nicht möglich gewesen wäre. Es ist ein Blickwinkel, der die Einheit trotz Rivalität betont und ein Gewinn für Berlin ist. Ich hoffe, dass das Derby dazu beiträgt, Ost und West noch stärker miteinander zu verbinden.

Interview: Caroline von Molitor.

Caroline von Molitor

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