Kolumne „Abgefahren“: Das Berliner Sechstagerennen ist nicht mehr das, was es mal war
Früher war bekanntlich alles besser und deshalb fand auch unser Kolumnist die Sechstagerennen aus grauer Vorzeit viel spannender. Alles Geschmackssache, oder?!
Michael Wiedersich ist Sportjournalist und Radsporttrainer. Hier schreibt er im Wechsel mit Läuferin Jeannette Hagen.
Zum Berliner Sechstagerennen habe ich ein eher zwiespältiges Verhältnis. Und das, obwohl der Budenzauber alljährlich quasi vor der Haustür stattfindet. Als junger Radrennfahrer war der Besuch in der Deutschlandhalle für mich das Größte und gehörte zum Erwachsenwerden dazu. Keine Nacht ließ ich mir entgehen, auch wenn ich am nächsten Morgen um 8 Uhr in der Schule sein musste. Später waren die Sixdays dann irgendwann nur noch der berufliche Teil meiner To-Do-Liste in Sachen Radsport.
Die Dramaturgie ähnelt in jedem Jahr und auf allen Bahnen der Welt
Selbst die siebenjährige Pause und der Umzug vom Eichkamp in das Velodrom konnten nur kurzzeitig die alte Begeisterung aus Jugendtagen zurückbringen. Irgendwann war die Liebe zum ältesten noch stattfindenden Hallenradsport-Spektakel erloschen. Am dargebotenen Sport konnte es nicht liegen, auf dem Holzoval ging und geht es immer noch richtig zur Sache. Die Steherrennen sind mir zwar zu laut und bei den Sprintern ist mir die Show zu viel. Aber das Herzstück der Sixdays, das Zweier-Mannschaftsrennen, begeistert mich nach wie vor.
Gerne wird ja behauptet, dass das Siegerteam ohnehin vorher schon feststehen würde. Und die Dramaturgie ähnelt sich tatsächlich in jedem Jahr und auf allen Bahnen der Welt. Zu Beginn der letzten Nacht liegen drei bis vier Teams ziemlich gleichauf, darunter der Publikumsliebling oder Lokalmatador. Am Ende entscheidet über Sieg und Niederlage ein Rundengewinn kurz vor dem Ende oder der Schlusssprint der letzten Jagd.
Doch wenn man sich das diesjährige Fahrerfeld anschaut, fällt eine Vorhersage über das mögliche Siegerteam sehr schwer. Und mal ehrlich: Die Fahrer, die am Ende vorne sind, haben es sich wirklich hart erarbeitet. Wer die Ablösungen nicht sauber hinbekommt und bei Tempo 60 in den Wertungssprints nicht reinhält, der kann nicht gewinnen, selbst wenn er neben der Halle geboren worden wäre.
Vielleicht fehlen mir auch einfach die großen Stars des Straßen-Radsports. Namen, die jeder kennt und die man auf dem Lattenoval einmal hautnah erleben könnte: kein Peter Sagan, kein Christopher Froome, kein Tom Dumoulin. Ganz zu schweigen von den neuen deutschen Radsport-Promis: Pascal Ackermann, Emanuel Buchmann und Nils Politt bereiten sich lieber auf die kommende Straßensaison vor.
Ein Maximilian Schachmann, der einst das Radsport-Einmaleins beim Marzahner RC lernte, hätte ein Heimspiel, ist aber auch nicht dabei. Selbst Lokalmatador Roger Kluge fehlt. Der Vorjahressieger muss zum Auftakt der Straßensaison in Australien seinen Kapitän Caleb Ewan die Sprints anfahren. Die Verträge mit ihren jeweiligen Teams lassen einen Sixdays-Start meist gar nicht zu. Das Risiko eines folgenschweren Sturzes gilt als zu groß. Noch dazu ist die Luft in der Halle nicht so leistungsfördernd wie beispielsweise ein Trainingslager auf Gran Canaria.
So ganz will ich die Sache mit dem Berliner Sechstagerennen trotzdem nicht abschreiben. Vor ein paar Jahren habe ich beim Training den Sechstage-Spezialisten Andreas Müller kennengelernt und ihn zu meinem persönlichen Radsport-Hero in Sachen Sixdays gemacht. Der Berliner wechselte wegen der besseren sportlichen Perspektive 2008 ins Nachbarland Österreich. 2014 gewann er sogar im Velodrom. Ab heute geht der Routinier mit seinem Partner Andreas Graf aussichtsreich ins Rennen. Ich jedenfalls drücke ihm wieder ganz fest die Daumen.
Michael Wiedersich
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