Pokalgeschichte: Das Albtraumlos
Den MSV Neuruppin hat das Pokalspiel gegen Bayern München 2005 in den finanziellen Ruin gerissen Der Verein hoffte, Bayern würde auf Geld verzichten.
Die Erinnerung lässt sich nicht wegschieben, auch wenn Jürgen Alex das am liebsten tun würde. „Ich rede nicht gern darüber“, sagt er mit leiser Stimme. „Es sind schlimme Sachen gelaufen.“ Mit dem DFB-Pokal, der an diesem Wochenende begonnen hat, verbindet Jürgen Alex nur noch traurige Gedanken. Bevor er dann doch zu erzählen beginnt, hält er inne: „Außerdem hätte es für dieses Thema einen viel besseren Gesprächspartner gegeben – wenn er inzwischen nicht tot wäre.“
Die Geschichte, die so traurig endete, liegt schon fünf Jahre zurück. Im Juni 2005 ist Jürgen Alex aus Neuruppin Schatzmeister beim städtischen Fußball-Oberligisten MSV. Der Verein ist ambitioniert und träumt insgeheim vom bezahlten Fußball. Die Euphorie steigt, als die Mannschaft den brandenburgischen Landespokal gewinnt und sich auf diesem Weg für die erste Runde im DFB-Pokal qualifiziert. Die Stadt ist elektrisiert und träumt den Traum vieler Amateure: einmal gegen den FC Bayern spielen! Einer heizt die Stimmung ganz besonders an: Dietmar Lenz. Der Vizepräsident des MSV, der gleichzeitig Chef der Stadtwerke Neuruppin ist, verkündet: „Wir holen Olli Kahn nach Neuruppin.“ Jürgen Alex kann über die Versprechungen von Lenz nur lächeln. Ein Spiel gegen die großen Münchner könnte der Oberligist mit seinem kleinen, 6000 Zuschauer fassenden Stadion nie stemmen, das weiß der Schatzmeister.
Die Auslosung verfolgt Alex daheim am Fernseher. Er ist nicht wie Dietmar Lenz ins „Aktuelle Sportstudio“ nach Mainz gereist. Als der MSV Neuruppin dann tatsächlich den FC Bayern zugelost bekommt, kann Alex es kaum fassen. In den Tagen nach der Auslosung klingelt das Telefon in der Geschäftsstelle Sturm. „Wir hätten unser Stadion fünfmal füllen können“, erinnert sich Alex. Bis Dietmar Lenz eine Idee kommt: „Wir mieten einfach das Berliner Olympiastadion“, sagt er zu Alex. Der ist zunächst wenig begeistert, die Mietkosten machen ihm Sorgen. Lenz beschwichtigt ihn: Der Vizepräsident will gehört haben, dass Bayern München bei Pokalspielen gegen kleine Vereine immer auf seinen Teil der Einnahmen verzichtet.
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Ein Gerücht, das sich bis heute hält – auch Heinz Georg Willmeroth kennt es. „Ich habe das jetzt schon mehrmals gehört“, sagt der Vorsitzende von Germania Windeck. Willmeroth war vor einigen Wochen ebenfalls im „Aktuellen Sportstudio“ zu Gast, auch er erlebte live, wie der FC Bayern seinem Verein in der ersten DFB-Pokal-Runde zugelost wurde. Und genau wie sein Kollege aus Neuruppin hat sich Willmeroth für den Umzug in ein größeres Stadion entschieden. Das Spiel wird am Montag (18 Uhr, live bei Sky) in Köln ausgetragen, vor mehr als 30 000 Zuschauern. Die Situationen ähneln sich frappierend, mit einem Unterschied: Was das Teilen der Einnahmen angeht, fragte Willmeroth nach, erhielt aber keine konkrete Antwort aus München.
Dietmar Lenz fragte damals nicht nach. Er war sich sicher, dass schon alles irgendwie gut gehen würde. Und zunächst sah es auch danach aus. Rund 35 000 Zuschauer füllten am Spieltag das Olympiastadion. Neuruppin verkaufte sich gut, die 0:4-Niederlage wurde als Erfolg gewertet. Für einen kurzen Moment war die ehemalige Garnisonsstadt landesweit bekannt. Doch der Ruhm verflog. Dass die Bayern und ihr damaliger Manager Uli Hoeneß auf ihren Anteil der Einnahmen verzichten – es blieb ein Gerücht. Auf einmal gab es Kosten, die der Verein nicht einkalkuliert hatte. „Aus heutiger Sicht muss man sagen, dass wir zu blauäugig an die Sache herangegangen sind“, gibt Jürgen Alex zu. „Uns fehlte einfach das nötige Know-how.“ Stadionmiete, Sicherheit, Reparaturen – die Kosten schienen kein Ende zu nehmen. „Reich wird man durch ein Spiel gegen Bayern München wirklich nicht, auch wenn das alle glauben“, sagt Heinz Georg Willmeroth. „Aber auch nicht unbedingt arm.“
Der MSV Neuruppin dagegen wurde arm. Oder besser gesagt: noch ärmer. Der Verein hatte das erhoffte Geld aus dem Pokalspiel bereits ausgegeben, bevor es überhaupt da war. Vor fünf Jahren galt Neuruppin als Oase für durchschnittlich begabte Fußballer, der Monatsverdienst der Spieler soll bis zu 5000 Euro betragen haben. Zum Vergleich: Die Spieler von Tennis Borussia Berlin bekommen in der aktuellen Saison nur etwa 150 Euro monatlich. Die Spieler machten aus ihrem Verdienst keinen Hehl und fuhren tagsüber in lilafarbenen Cabrios durch die Stadt. Dietmar Lenz versuchte die finanziellen Engpässe immer wieder mit Sponsorenzahlungen der Stadtwerke auszugleichen, doch die Lücke, die das Pokalspiel gegen die Bayern in die Vereinskasse gerissen hatte, war zu groß. „Irgendwann musste ich die Notbremse ziehen“, sagt Jürgen Alex. Der Verein ging in die Insolvenz, Dietmar Lenz wurde als Stadtwerke-Chef wegen Untreue und Vorteilsnahme angeklagt. Zu diesem Zeitpunkt war aus dem einstigen Glückslos FC Bayern bereits eine teure Niete geworden.
Heute hat Jürgen Alex mit Fußball nichts mehr am Hut. Der 56-Jährige lebt zurückgezogen, arbeitet als Betriebsberater in Neuruppin. „Ich möchte mit all dem nichts mehr zu tun haben“, sagt er traurig. Traurig, weil sich Dietmar Lenz im vergangenen Dezember das Leben nahm.