WM 2014 - Achtelfinale: Brasilien fürchtet gegen Chile eine Treibjagd auf dem Rasen
Brasilien fürchtet vor dem Achtelfinale die Kampfbereitschaft der Chilenen. Schon einmal hat es der heutige Gegner mit der Aufopferung übertrieben – und eine Rasierklinge benutzt.
Es geht mal wieder um das Schicksal der Nation. Darunter tun es Fußballspiele nicht in Brasilien und erst recht nicht bei der Copa, der Weltmeisterschaft zwischen Fortaleza und Porto Alegre. Heute beginnt „die Copa der Wahrheit“, so hat es der brasilianische Verteidiger Daniel Alves gesagt, „wir dürfen keine Fehler mehr machen, denn ab jetzt wird jeder Fehler sehr teuer bezahlt“. Im Achtelfinale von Belo Horizonte trifft die Seleçao brasileira auf die Mannschaft Chiles, von der Brasiliens sonst so betont selbstsicherer Trainer Luiz Felipe Scolari sagt: „Wenn ich mir einen Gegner hätte aussuchen dürfen – ich hätte mir einen anderen ausgesucht.“
Es hätte aus der Vorrundengruppe B Weltmeister Spanien sein können oder der WM-Zweite Niederlande. Aber musste es unbedingt Chile sein? Diese wilde, spielwütige Gemeinschaft, die neue Mitstreiter nur zu akzeptieren scheint, wenn sie von Kopf bis Fuß mit großflächiger Kriegsbemalung auftreten? Selbst der Trainer Jorge Sampaoli, interessanterweise ein Argentinier, hat sich ein riesiges Tattoo auf den Oberarm stechen lassen.
Keine Mannschaft bei dieser WM kommt so wild daher wie die Chilenen, und das liegt nicht nur an ihrer Kriegsbemalung. La Roja, wie die rotgewandete Nationalmannschaft in der Heimat genannt wird, steht für einen in dieser Radikalität neuen Stil. Für eine 90 Minuten währende Treibjagd auf dem Fußballplatz. Chile hat diesen Stil schon vor vier Jahren in Südafrika zur Vorführung gebracht und für die unterhaltsamsten Momente in einer sonst eher langweiligen WM gesorgt. Aber damals war das System noch nicht ausgereift und erfolgskompatibel. Im Achtelfinale kam das Aus, mit einer 0:3-Niederlage gegen – Brasilien.
Brasiliens Trainer Luiz Felipe Scolari sagt, dass Chile alles andere als ein Wunschgegner sei
Vier Jahre später ist Chile vier Jahre weiter. Mit brillanten Individualisten wie Arturo Vidal, Alexis Sanchez oder Marcelo Diaz, er sprach den bei dieser WM so oft zitierten Satz: „Wir sind nicht die Talentiertesten, aber wir haben eine Qualität: Wir spielen mit dem Herz.“ Eben dieses chilenische Herz fürchten sie in Brasilien, aber sie sprechen nicht vom chilenischen Herz, denn es gibt da ein traditionell gewachsenes Unbehagen und dafür einen ganz speziellen Ausdruck.
Catimba.
Mehr müssen sie nicht sagen in Rio oder Sao Paulo oder Belo Horizonte, um die Furcht und den Respekt und die Abscheu auszudrücken, wenn es gegen Mannschaften geht wie Chile. Catimba sagt alles. Catimba kann man schwer übersetzen, allenfalls umschreiben. Vielleicht als südamerikanische Variante des Catenacchio, des Verteidigens um jeden Preis und gegen alle Regeln des Anstandes und der Schönheit. Aber der Catenacchio, ersonnen und praktiziert von Helenio Herrera, dem argentinischen Schleifer von Inter Mailand, reduziert seine Charakter auf die Fußball-Verhinderung auf dem Platz. Catimba ist mehr. Kratzen, spucken, beleidigen und zur Not auch mal eine Rasierklinge aus dem Handschuh ziehen.
Alles schon passiert zwischen Brasilien und Chile.
Bald 25 Jahre ist das jetzt her. Am 3. September 1989, als es in Rio de Janeiro um die Qualifikation für die Weltmeisterschaft 1990 in Italien ging. Im alten, noch nicht weichgespülten Maracana mit seinen gigantischen Stehplatzringen, wo sich die Torcedores aus den Favelas versammelten und das Zünden von Pyrotechnik noch als völlig legitimer Ausdruck von Gefühlsaufwallungen galt. Auch an diesem 3. September 1989 flogen Feuerwerkskörper auf den Rasen, und als der chilenische Torhüter Roberto Rojas blutüberströmt zusammenbrach, brach der Schiedsrichter das Spiel ab.
1989 brach Chiles Torhüter Roberto Rojas blutüberströmt zusammen – er hatte sich selbst verletzt
Südamerika hatte seinen Skandal, aber es war kein brasilianischer Skandal, sondern ein chilenischer. Das Spielfeld war damals noch nicht ausgeleuchtet von Dutzenden von Kameras. Eine der wenigen aber hatte den Moment eingefangen, in der Rojas aus seinem Handschuh eine Rasierklinge hervorgeholt und sich die Wunde selbst zugefügt hatte. Der perfide Plan war im Kreis der gesamten Mannschaft ersonnen worden, er kostete Rojas die Karriere und Chile neben der Qualifikation für Italien auch die für die WM 1994 in den USA.
Die Sache mit Roberto Rojas ist bis heute nicht vergessen, und sie steht immer noch zwischen den Chilenen und Brasilianern, deren Nachfahren auf dem Platz 1989 noch Kleinkinder waren oder Babys oder noch gar nicht geboren. Das ist ein bisschen unfair, denn das neue Chile zeichnet sich ja keineswegs allein durch martialische Kampfkunst aus, sondern vor allem durch virtuoses Spiel. Arturo Vidal, der begnadetste der wilden Chilenen, hat schon mal versprochen, „dass wir auf dem Platz unsere Seele hergeben werden“. Die sensiblen und in der Heimat unter besonderem Druck stehenden Brasilianer wissen, was das bedeutet. In Sachen Tattoos stehen sie den Chilenen wenig nach. Aber können sie auch in deren Radikalität spielen und kämpfen, wenn es um alles geht bei der Copa der Wahrheit?
Seitdem Luiz Felipe Scolari im November 2012 die Seleçao übernommen hat, sind Chilenen und Brasilianer zweimal gegeneinander angetreten. Einmal, bei einem PR-Spiel in Kanada, haben die Brasilianer 2:1 gewonnen. Das zweite Spiel endete 2:2, vor gut einem Jahr, ausgerechnet in Belo Horizonte, wo am Samstag das Achtelfinale ausgespielt wird. „Das wird ein verdammt schweres Spiel“, sagt Neymar, Brasiliens Lichtfigur, Träger der Hoffnungen einer ganzen Nation, deren Schicksal mal wieder auf dem Spiel steht. „Wenn Neymar es auf dem Platz regnen lässt, wundert sich keiner“, sagte Brasiliens Verteidiger David Luiz.
Vielleicht hilft ja Neymars Regen gegen Chiles Catimba.