BFC Dynamo: Berlins dunkler Kontinent
Die Berliner machen es sich zu einfach, Dynamo-Fans als Nazis zu bezeichnen, sagt unser englischer Autor Titus Chalk. Er hat sich für uns auf Afrika-Reise begeben.
Am vergangenen Samstag, inmitten des endlosen Berliner Regens, bin ich nach Afrika und zurück gefahren, um ein deutsches Pokalspiel zu sehen. Das mag jetzt vielleicht ein wenig weit klingen, aber man sollte erwähnen, dass ich flussaufwärts unterwegs war, wie der Dampferkapitän Marlow in Joseph Conrads Afrika-Novelle „Herz der Finsternis“. Und das schon seit einigen Tagen, seit ich auf dem Fahrrad eine Erkundungstour unternommen hatte, die Landsberger Allee hinauf, auf der Suche nach Tickets. Tief in einem fremden Teil der Stadt erstreckte sich der Asphalt unter meinen Reifen wie ölig-schwarzes Fahrwasser und die Plattenbauten umschlossen mich wie ein dichter, dunkler Mangrovenwald. Von da an wagte mich immer weiter vor, auf das geheimnisvolle und bedrohliche, von Mythen und Gerüchten umrankte Unbekannte zu – den meisten Berlinern besser bekannt als der BFC Dynamo.
Wie Afrika ist Dynamo ebenso sehr ein Konzept wie eine physische Wahrheit. Und so, wie der „dunkle Kontinent“ einst die „zivilisierten“ Europäer mit einer Andersartigkeit konfrontierte, die sie schwitzend, atemlos und schwindlig zurückließ, fordert der BFC Dynamo die kuscheligen Überzeugungen Berlins heraus. Denn wenn es um dieses Thema geht, so wurde mir berichtet, kennen die Einheimischen keine zwei Meinungen.
Ich würde lügen, wenn ich nicht zugeben würde, dass ich vor meinem Besuch im Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark ein paar Vorkehrungen getroffen hatte. Journalisten haben Vorurteile, wie alle anderen guten Menschen da draußen auch. Selbst wenn es unser Beruf ist, gegen diese Vorurteile anzugehen und Geschichten von einem objektiven Standpunkt aus zu schreiben. Unglücklicherweise tappen aber einige Kollegen und Freunde in die Falle, alles aus der gleichen Perspektive zu betrachten wie die Fans. Wenn man sie nach Berlins Paria-Klub fragt, dann rutscht ein Begriff über ihre Lippen, Stifte oder Computertastaturen: „Die sind Nazis“, heißt es dann.
Sexpuppen und Amy Winehouse
„Schau dich um“, sagt Thomas, ein Fan in seinen Vierzigern, der neben mir und 9000 im anderen im Regen unter Stadiondach stand, wie Überlebende eines apokalyptischen Sturms, die Schutz unter einer umgekippten Arche suchen. „Sind diese Fans etwa alle Rechtsextreme?“ Das hier mag vielleicht Afrika sein, aber ich höre kein Affengeschrei und sehe auch keine Bananen. Hier finden sich Familien zwischen grölenden Fans, kleine Studentengruppen, große Jungs mit Bärten, einige heisere Frauen und Otto Normalverbraucher.
“Das Ding ist”, sagt Thomas, “dass das hier der einzige Ort in Ost-Berlin war, wo man europäischen Fußball sehen konnte. Ich habe Klubs wie Nottingham Forest und Aston Villa gegen Dynamo spielen sehen. Vergiss die Stasi-Verbindungen damals – ich war wegen dem Fußball hier und ich bin auch heute noch wegen dem Fußball da.“
Dann lässt er sich verständlicherweise ablenken, schaut den Kaiserslauterern zu, wie sie die nervöse Dynamo-Mannschaft an die Wand spielen. Ihre Beweglichkeit und ihr Ballgefühl überfordern die Berliner auf einem glitschigen Platz und so führen sie schon in der 22. Minute 2:0 und drängen die Heimmannschaft fast pausenlos in die eigene Hälfte zurück. Eine aufblasbare Sexpuppe, die optimistische Dynamo-Fans an dem Zaun vor der Kurve befestigt haben, beginnt im Regen nur noch durchnässt und absurd auszusehen. Die Fans haben sie mit Stricken und Bändern festgeschnallt, vermutlich um die Unterwerfung und Erniedrigung zu symbolisieren, die ihre Mannschaft Kaiserslautern zufügen möge – ein feuchter Traum, in jedem Sinne des Wortes.
Aber diese schäbige Sexpuppe (die kurz vor Schlusspfiff liebevoll von ihrem zartbesaiteten Besitzer zurückgefordert wird, aus Angst, sie könne zu Schaden kommen) steht auch für die völlig legitimen Hoffnungen von Fans, wie sie in der ganzen Stadt gehegt werden. Als Dynamo 0:3 zurückliegt, peitschen die Anhänger ihre Mannschaft nach vorne, erbetteln lautstark: „Wenigstens ein Tor…“. Sie singen aufsässig und laden den endlosen Regen, der Berlin seit 36 Stunden überzieht, mit ein wenig Elektrizität auf.
Die meisten Sprechchöre sind inhaltlich einwandfrei, soweit ich das beurteilen kann, auch wenn ich nicht jedes Wort verstehen kann. Ein einsamer Betrunkener stimmt kurz einen Gesang über eine kürzlich verstorbene jüdische Sängerin an, „Amy Winehouse, Amy Winehouse“, aber es ist unmöglich zu sagen, ob er ein grimmiger Antisemit ist oder nur ein besoffener Witzbold mit einem morbiden Sinn für Humor.
Lesen Sie auf der nächsten Seite über das ultimative Tabu.
Von Herz der Finsternis zu Apocalypse Now
Der Lärm der Masse ist donnernd, pulsierend und urzeitlich (nicht zuletzt der Chor des „Ost, Ost, Ost Berlin!“, aus tiefstem Herzen vorgetragen) und fühlt sich ein wenig an, wie die pochenden Trommeln, die Marlow im Dschungel Belgisch-Kongos verfolgen: „Abstoßend. Ja, es war ziemlich abstoßend“, berichtet der Protagonist in Conrads Novelle. „Aber wenn du Manns genug wärest, dann gäbest du dir selbst gegenüber zu, dass etwas in dir auf die furchtbare Aufrichtigkeit dieses Geräusches antwortet.“
In der 78. Minute werden Bengalos in der Kurve gezündet, die den Schiedsrichter zwingen, das Spiel zu unterbrechen. Säuerlicher, grauer Rauch mischt sich mit dem Geruch von brutzelnden Würstchen, erzeugt einen beißenden Gestank, und als die knallenden Böller auf die Laufbahn geworfen werden, driftet die Atmosphäre ab, von„Herz der Finsternis“ zu „Apocalypse Now“. Dynamos Kapitän und Trainer müssen die Menge zu besserem Betragen ermahnen, bevor das Spiel weitergehen kann.
Als es das tut, schleiche ich heraus, um mich mit einem Freund über die hitzige Atmosphäre zu unterhalten und die seltsame Fanszene, auf die wir gerade getroffen sind, während hinter uns Gesänge und Explosionen wiederhallten. Wir haben zahlreiche Riesen mit rasierten Schädeln gesehen, die Gewichte stemmen, um ein furcht erregendes Bild zu kultivieren. Viele von ihnen strotzen nur so vor Bedrohlichkeit und laufen aufrecht wie ein gestreckter Mittelfinger, den sie der Welt um sich herum zeigen. Aber macht Sie das zu Nazis?
Das neue N-Wort
Dieses Wort wird auf gefährliche Art überstrapaziert in dieser Stadt. Vermieter, Politiker, Fußballfans… sie alle werden schnell dämonisiert und das auf eine Weise, die die wahre und furchtbare Bedeutung dieses Wortes untergräbt. Es ist eine lässige Attitüde der linken Berliner Mehrheit, jeden so zu bezeichnen, den sie nicht leiden können, und reduziert den Diskurs zur platten Karikatur.
Das Wort ist so beladen, polarisierend und abfällig, dass es natürlich von denen, die darunter klassifiziert werden, es als stolze Eigenbezeichnung adaptiert wird. Deutsche Hooligans übernehmen es, weil der Nazismus in dieser Gesellschaft das ultimative Tabu darstellt und genau danach suchen sie. In anderen Gesellschaften ist es Tabu genug, Leute anzugreifen, einfach nur weil sie einer bestimmten Fußballmannschaft anhängen. Hier ist es nicht ganz so: Eine noch extremere Form asozialen Verhaltens ist erreichbar und die Asozialen nehmen diese Möglichkeit begeistert an, egal ob sie wirklich einer politischen Ideologie anhängen oder nicht. In jedem Fall sind sie abgeschnitten: Unverantwortliche Sprache lässt Kommunikationsverbindungen abbrechen, die einer freien Gesellschaft sehr viel nützlicher sein könnten, als die Nutzer solcher Wörter es sehen wollen. Es gab schon einmal ein „N-Wort“, mit dem Leute stigmatisiert wurden, es waren Afrikaner, und Berlin täte gut daran, diesen Fehler nicht zu wiederholen.
Als ich nach Hause kam und anfing zu schreiben, postete ein befreundeter Journalist auf Facebook einen Link zu einem Artikel, in dem stand, dass etwa 100 Dynamo-Hooligans nach dem Spiel den Block der Gästefans gestürmt haben. Minuten später setzte ein anderer Journalist den ersten Kommentar darunter: „Drecks-Nazis...“ Obwohl es so aussieht, als seien auch Hooligans aus Poznan und Frankfurt an der Gewalt beteiligt gewesen, haben sich die Meinungen längst gebildet und die Stereotypen verfestigt, vor allen bei denen, die besser um über Macht der Worte bescheid wissen sollten. (Übersetzung: Dominik Bardow)
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