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Ex-Nationaltorwart Andreas Thiel: „Bei uns haben noch Leute mit Bäuchen gespielt“

Der frühere Nationaltorwart Andreas Thiel über die Entwicklung des Handballs, WM-Favorit Kroatien und seine Nachfolger.

Herr Thiel, wären Sie lieber heute Handballspieler als vor 10 oder 20 Jahren?



Was die finanziellen Möglichkeiten betrifft, kann ich einen gewissen Neidfaktor nicht leugnen. Andererseits war es gut so, wie es für mich gelaufen ist. Ich habe noch in einer Zeit gespielt, in der es möglich war, nicht nur den Körper, sondern den Kopf einzusetzen, sprich eine Ausbildung oder ein Studium zu absolvieren. Das ist heute schwer geworden, weil die Vereine für das viele Geld 100 Prozent Einsatz verlangen.

Gefällt Ihnen auch das Spiel besser?

Wir haben früher auch in den so geschmähten Schulturnhallen ordentlichen Handball abgeliefert. Wenn Stefan Hecker sagt, mit seiner Truppe von TuSEM Essen aus den Achtzigerjahren würden sie heute kein Spiel mehr gewinnen, ist das richtig. Man muss das aber in Relation sehen. Wir haben früher einmal am Tag trainiert. Wir haben noch Waldläufe gemacht. Da sind wir immer am Anschlag gelaufen mit hoher Laktatbildung. Das war kompletter Nonsens. Die Trainingswissenschaft hat sich erheblich verbessert, ebenso die Physiotherapie.

Wie hat sich das auf das Spiel ausgewirkt?

Ende der Neunzigerjahre fing es an sich zu ändern, mit schneller Mitte und einer deutlichen Verbesserung der Außen, mit mehr Athletik. Bei uns haben ja noch Leute mit kleinen Spitzbäuchen gespielt, die von ihrer Schläue und von ihrem Handballverstand gelebt haben. Wenn ich die Jungs von der Nationalmannschaft heute unter der Dusche sehe, dann sehe ich nur noch Modellathleten.

Hat das Handball nicht nur schneller, sondern wirklich attraktiver gemacht?

Ja. Wenn sie sich das WM-Finale von 1978 angucken, die deutsche Handball-Legende, dann ist das ein furchtbar langweiliges Spiel. Da ist nichts Schnelles im Positionsangriff zu sehen. Da läuft Horst Spengler am Schluss zwei, drei Gegenstöße, die reichen, um einen 20:16-Vorsprung herauszuschießen. 20:16 steht es heute in der Halbzeit. Das hat unser Spiel viel attraktiver gemacht.

Wie globalisiert ist Handball inzwischen? Oder andersherum: Wie weit sind nationale Eigenheiten im Handball geblieben?

Gute Frage. Die nationalen Besonderheiten sind geblieben. Die Deutschen können immer noch exzellent verteidigen, die Südkoreaner können vorne immer noch kreativ mit Kempa-Trick spielen, die Russen spielen zwar insgesamt schneller als früher, haben aber noch diese Bären im Rückraum und die Bären in der Abwehr und ihre Torhüter sind nicht wirklich Weltspitze. Die Skandinavier spielen immer noch so skandinavisch wie zu unserer Zeit, mit exzellenten Torhütern. Die Isländer sind immer noch in erster Linie die kämpfenden Wikinger. Das ehemalige Jugoslawien ist jetzt aufgespalten, wobei die Kroaten klar eine führende Rolle spielen und – ich sage es ungern, aber es ist die Wahrheit – sie sind die besten Handballer.

Warum?

Weil sie noch die Schlitzohrigkeit, die Fähigkeit zum Drecksack mitbringen. Mehr als die Nord- und Westeuropäer.

Ihr WM-Favorit ist also Kroatien.

Wenn Kroatien es nicht wird, dann wird da großer Alarm sein. Die Franzosen sind zu beachten, die Dänen.

Und die Deutschen?

Nach einem guten Start kann das Turnier für sie die typische Eigendynamik entfalten. Sie haben in den vergangenen Jahren ja immer gute Ergebnisse abgeliefert.

Hat man sich in Deutschland vom WM-Gewinn 2007 blenden lassen?

Blenden ist ein zu großes Wort. Aber alle, die Ahnung haben, wissen, dass wir bei der WM eine gehörige Portion Schwein hatten. Ich habe Viertelfinale und Halbfinale live gesehen. Da war der Handball-Gott schon auf unserer Seite. Wir haben 2007 für einige Turniere unseren Glücksfaktor aufgebraucht.

Was können oder sollen die Deutschen von anderen lernen?

Ich wehre mich immer gegen so etwas. Da bin ich ein Anhänger von Heiner Brands Philosophie, der die deutsche Spielauffassung vertritt: 6:0-Abwehr, da sind wir gut, wir spielen vorne mit unseren Auslösehandlungen. Man kann die anderen nicht kopieren, und eine Kopie ist immer schlechter als das Original.

Was ist das deutsche Handball-Original?

Wir sind die beißenden Deutschen. Das ist bei den Fußballern ähnlich. Wenn eine Truppe bei uns mal funktioniert, wird nicht aufgegeben. Das klingt vielleicht viel zu pathetisch. Aber das ist nun mal so. Da spielt der Kampfgeist immer noch eine große Rolle, dieses Sich-gegen-die Niederlage-Stemmen. Die Kroaten haben schon mal keine Lust. Das geht bei uns nicht: Verschießen, okay, einen schlechten Tag haben, okay, aber man muss wenigstens den Willen sehen. Das ist Heiners Philosophie. Ich bin in Gummersbach groß geworden und habe das auch mit der Muttermilch aufgesogen.

Warum hat Deutschland immer herausragende Torhüter?

Die Frage ist mir schon oft gestellt worden. Und ich konnte sie noch nie zur Zufriedenheit beantworten.

Suchen sich die jungen Spieler Vorbilder und geht so die Tradition weiter?

Das kann ich nicht kompetent beantworten. Ich stelle nur fest, dass wir in allen Spielsportarten, die einen Torwart benötigen, immer brauchbare Leute hervorgebracht haben, ich denke an Eishockey, an Hockey, an Fußball und Handball.

Liegt es in der deutschen Mentalität, abzuwarten und dann schnell zu reagieren?

Solche Gedanken habe ich mir auch schon gemacht, ob der Torwart ein deutscher Nationalcharakter ist, der Hüter des Hofes vielleicht.
Die Torhüter in Deutschland haben es wohl auch leichter, denn vor ihnen steht eine besonders gute Abwehr.

Die Russen und andere verteidigen auch engagiert. Das erleichtert im Positionsspiel die Arbeit erheblich, wenn sie einen guten Block haben und ihre Verteidiger in der Lage sind, beim Wurf Körperkontakt zum Werfer herzustellen. Das muss ja nicht unbedingt ein zu pfeifendes Foul sein. Ein bisschen Körperkontakt genügt ja schon, um die hundertprozentige Konzentration des Schützen zu stören.

Wie sehen Sie Ihre Nachfolger?

Wir haben wirklich gute Leute, und es kommen immer welche nach: Wir haben Silvio Heinevetter, der nach Berlin wechselt, wir haben den jungen Jens Vortmann in Berlin, der so schnell wie möglich wechseln sollte, damit er auch mal an der Nationalmannschaft riechen kann.

Als Sie im Jahr 2000 aufgehört haben, haben Sie von Schiedsrichtern aus Osteuropa erzählt, die mit ihrem leeren Lada zum Europapokalspiel gekommen und hinterher mit einem vollen wieder abgefahren sind.

So war das. Das wusste auch jeder. Es ist aber deutlich besser geworden. Das klassische Pfeifen für die Heimmannschaft im Europapokal hat sich verringert. Es ist gelegentlich noch zu sehen, aber nicht mehr Standard. Vielleicht ist deshalb die höchst fragwürdige Olympia-Qualifikation in Asien allen sauer aufgestoßen. Die haben einfach übertrieben.

In Deutschland kritisieren Sie vor allem die explodierenden Spielergehälter.

Ich halte diese Entwicklung für schädlich, weil wir in unserer Sportart auf lange Sicht nicht in der Lage sind, in der Breite die Personalkosten zu refinanzieren. Es gibt Ausnahmen: Kiel, Hamburg, die Rhein-Neckar Löwen, Lemgo vielleicht auch noch. Aber der Rest muss sich irgendwann einmal wieder auf das Wesentliche besinnen. Wenn sauber bezahlt werden soll, kann ich keine Riesengehälter bezahlen. Der Durchschnittsspieler verdient zu viel.

Und das könnte der Bundesliga schaden?

Davon gehe ich aus. Die Bundesliga hat – von einem Jahr abgesehen – in der Regel mit einem zugedrückten Auge Lizenzen bewilligt. Die Bundesliga ist eben kein Handballverhinderungsverein. Das ist auch vom Ansatz her richtig. Das erhöht aber eben das Risiko, dass Vereine insolvent gehen. Wir haben am 5. Februar eine Mitgliederversammlung, da geht es auch um eine Verschärfung der Lizenzierungsrichtlinien. Und ich gehe davon aus, dass die Versammlung die auch beschließen wird.

Wo ist Handball eigentlich zu Hause? In jüngster Vergangenheit erreicht die Bundesliga auch Metropolen.

Berlin ist eine Ausnahme, die tut unserer Sportart gut. Aber es ist kein Modell. Hut ab vor Manager Bob Hanning was er geschafft hat mit den Füchsen, doch mittelfristig sind sie auch vom Erfolg abhängig. Platz acht, neun, zehn werden sie nicht fünf Jahre lang verkaufen können.

Das Gespräch führte Friedhard Teuffel.

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