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Die Analysen all dieser Detaildaten haben nur ein Ziel: den idealen Sprungablauf zu finden.
© Imago

Zum Start der Vierschanzentournee: Auf der Suche nach dem perfekten Flug

Leipziger Sportwissenschaftler zerlegen Skisprünge in all ihre Einzelteile. Die Analysen haben nur ein Ziel: Es gilt, den deutschen Athleten dabei zu helfen, den idealen Sprungablauf zu finden. Eine Reportage.

Von Johannes Nedo

Auf Skiern mehr als 100 Meter weit zu fliegen, ist alles andere als natürlich. Doch es wirkt genau so, wenn die besten Skispringer der Welt es vollführen. Wenn sie die Schanze herunterrauschen, nach dem Absprung kraftvoll abheben, wie auf Knopfdruck die Skier zu einem V formen, durch die Luft segeln und dann sanft mit leicht versetzten Skiern landen.

Auch an diesem Freitag in Oberstdorf, beim ersten Springen der 65. Vierschanzentournee (16.45 Uhr/ZDF), werden die Skispringer diese einzelnen Elemente wie aus einem Guss abspulen. Unterschiede im Bewegungsablauf sind dabei für die Zuschauer vor Ort und am Fernseher kaum zu erkennen. Und ganz genau können es oft auch die Trainer und Springer selbst nicht erklären, warum der eine nun weiter geflogen ist als der andere. Mit bloßem Auge ähneln sich die meisten Sprünge zu sehr.

Dabei gibt es natürlich Unterschiede, sie sind eben sehr klein, sehr fein. Aber sie machen sehr viel aus. Und wenn die deutschen Skispringer und ihr Bundestrainer Werner Schuster ergründen wollen, woran es im Detail liegt, dass der eine zehn Meter früher landet als der andere, obwohl sich die Bewegungsabläufe doch so ähneln, dann wird für sie ein Ort interessant, an dem es gar keine Schanze gibt: das Institut für Angewandte Trainingswissenschaft, kurz IAT, in Leipzig.

Bei Sportwissenschaftler Sören Müller und seinem Kollegen Sascha Kreibich laufen nahezu alle Informationen zusammen, die während der zehn Sekunden vom Herunterfahren der Schanze bis zur Landung nicht zu sehen sind. Wie schnell ist der Springer während der Anfahrt unterwegs? Ist die Anfahrtsposition aerodynamisch genug? Wie stark springt er ab? Wie schnell kommt er in die beste Flugposition? In welchem Winkel steht während des Flugs der Körper zu den Skiern?

Die Analysen all dieser Detaildaten haben nur ein Ziel: Es gilt, den deutschen Athleten dabei zu helfen, den idealen Sprungablauf zu finden.

Die Experten zerlegen den Sprung in drei Phasen

Das IAT forscht für zahlreiche Sportarten: unter anderem in der Leichtathletik, im Rudern oder im Radsport. Im zweiten Stock des grünen, viergeschossigen Gebäudes unweit des Zentralstadions sitzt Müller mit seiner Fachgruppe. Gemeinsam mit drei Mitarbeitern ist er für das Skispringen und die Nordische Kombination zuständig. In Müllers Büro ist das sofort zu erkennen. In einer Ecke lehnt ein Paar Skisprung-Skier an der Wand, daneben hängen Dutzende Akkreditierungsbändchen vergangener Wintersportwettkämpfe. Über dem Fenster prangen Trikots von Severin Freund und Kombinierer Eric Frenzel. Neben dem Schreibtisch steht ein Poster aus DDR-Zeiten mit der Aufschrift: „Zweckmäßige Skisprunghaltung“. Und dem gegenüber steht ein Holzmodell eines fliegenden Skispringers, das mit seinen beweglichen Gelenken wie eine unbemalte Marionettenpuppe aussieht.

Sören Müller
Sören Müller
© imago/Sven Simon

„Skispringen sieht so einfach aus“, sagt Müller. „Aber es ist so komplex.“ Derzeit beschäftigt er sich mit seinem Team vor allem mit einem Bestandteil des Skispringens, laut Projekttitel sind es die „individuellen Technikmodelle zur Erhöhung der Anfahrtsgeschwindigkeit auf Basis biomechanischer Parameter im Skispringen“. Genau, sehr komplex.

Um zu erklären, welche Faktoren für ihn und seine Kollegen nun besonders interessant sind, nimmt sich der 41-Jährige erstmal ein kariertes Blatt A4-Papier. Müller, schlank, mit kurzen Haaren und wachen Augen hinter der Brille, zeichnet mit wenigen Strichen eine Schanze und den Auslauf sowie drei Skispringer-Strichmännchen. Eines in der Anfahrt auf der Schanze, eines am Schanzentisch beim Absprung, und eines im Flug. Dann teilt er mit zwei Längsstrichen die Skizze in drei Teile. „Wir zerlegen den Sprung in drei Hauptphasen, die für die Weite entscheidend sind. Denn in allen drei Phasen kann der Athlet Meter verlieren“, sagt Müller.

Die erste Phase ist die Anfahrt, da wird die Geschwindigkeit gemessen. Ein Kilometer pro Stunde weniger kann sechs Meter weniger Weite ausmachen. Die zweite Phase besteht aus dem Absprung und dem Übergang in den Flug, da werden die Kräfte gemessen, die der Skispringer aufbringt, um seinen Körperschwerpunkt zu beschleunigen. Auch hier können 0,1 Meter pro Sekunde weniger 1,5 Weitenmeter weniger bedeuten. Zusätzlich wird der Bewegungsablauf untersucht, etwa in welchem Winkel die Knie geöffnet werden vor dem Absprung. Und die dritte Phase ist der Flug, da wird die Ski- und Körperhaltung gemessen. Wie nah sind die Skier am Körper? In welchem Winkel sind sie angestellt, damit sie so wenig Widerstand wie möglich, aber genug Auftrieb bieten? Denn mit fehlerhaften Haltungen des Körpers und der Ski können noch mehr Meter verloren gehen. So kommt schließlich ein großer Weitenunterschied heraus, der zunächst nicht zu erkennen ist.

Sechs bis acht Kameras filmen den Sprung

Die Anfahrtsgeschwindigkeiten, die meist bei um die 90 Kilometer pro Stunde liegen, messen Müller und sein Team mit Lichtschranken. Die Kräfte beim Absprung können sie nur an den Schanzen in Oberstdorf und Klingenthal messen. Dort wurden 80 Sensoren, sogenannte Kraftwertmessgeber, in Platten unter der Anfahrtsspur eingebaut. Und die Körper- und Skiwinkel messen Müller und seine Kollegen anhand von Videoaufnahmen von sechs bis acht Kameras, die den Sprung von der Seite in Flugbahnhöhe filmen. „Um genau auf die Flugbahnhöhe zu kommen, klettern wir meistens auf Bäume und befestigen dort die Kameras“, sagt Müller und grinst. Er und sein Team scheuen keinen Aufwand, damit die Ergebnisse so exakt wie möglich sind.

Mit ihrem Mess- und Informationssystem sei das IAT und damit auch der Deutsche Ski-Verband weit vorne, betont Müller. Auch Österreich, Japan und Norwegen haben eigene Messsysteme. Doch in diesem Bereich gibt es kaum internationalen Austausch. Bundestrainer Schuster bekommt vom IAT jedenfalls regelmäßig detaillierte Auswertungen der Trainingslehrgänge: Darin enthalten sind etwa Kurvendiagramme mit den Kraftverläufen beim Absprung und Fotoserien der einzelnen Sprünge, anhand derer man die Körper- und Skihaltung genau erkennen kann.

Jeden noch so kleinen Bereich versuchen Müller und sein Team auszuleuchten. Bei der Anfahrt etwa komme es extrem auf die Beinstellung an, betont er. Prompt stellt sich Müller neben seinen Schreibtisch und demonstriert verschiedene Anfahrtshocken. Erst geht er ganz tief in die Knie, dann richtet er den Oberkörper mehr auf. Wie bei den Profis sieht das aus. „Ich war früher Skispringer“, sagt Müller.

Als Nachwuchsathlet trainierte er in Oberhof unter anderem mit Ronny Hornschuh, mittlerweile Nationaltrainer der Schweiz. Nach einer Verletzung musste Müller seine sportliche Karriere früh beenden. Er studierte Sportwissenschaften in Leipzig und arbeitet nun seit 15 Jahren am IAT in der Skisprunganalyse. „Es gibt aber noch so viel zu erforschen auf dem Gebiet“, betont Müller. Sofort nennt er die Flugbahngeschwindigkeit. Das sei noch eine interessante Größe, die man mit Hilfe von Sensoren am Ski erfassen könnte.

Auf dem Weg zum idealen Sprungablauf ist also noch einiges zu tun. Zunächst zählt aber der Auftakt der Vierschanzentournee an diesem Freitag. Müller ist in Oberstdorf vor Ort – und wird danach genau sagen können, wer warum wie weit gesprungen ist.

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