Studie löst Spekulationen aus: Auch in der BRD dopte der Staat offenbar mit
In der DDR gab es einen Staatsplan für das Doping, eine hierarchische Verordnung, die konsequent umgesetzt wurde. In der BRD war das ein bisschen anders. Gedopt wurde aber auch hier - und der Staat unterstützte das. Zumindest indirekt.
Auf den letzten Metern dieses Rennens ist ein ganzer Systemvergleich entschieden worden. So hätte es die alte Bundesrepublik gerne gehabt, als Heidemarie Rosendahl auf der Schlussgeraden der Sprintstaffel bei den Olympischen Spielen 1972 in München ihrer DDR-Konkurrentin Renate Stecher davonlief. Der Zieleinlauf gehört zur Ikonografie des deutschen Sports.
Der Subtext zu Rosendahls Sieg lautete: Gesellschaftliche Freiheit macht lockere und schnellere Beine. Dagegen können auch Staatsdopingpillen nicht ankommen. Stecher hatte in München Gold über 100 und 200 Meter gewonnen, sie hielt den Weltrekord. Dennoch verlor sie dieses Duell gegen Rosendahl, die es noch nicht einmal zur bundesdeutschen Meisterin über 100 Meter geschafft hatte. Ihre Spezialitäten waren der Weitsprung und der Mehrkampf.
Die in dieser Woche veröffentlichte Studie zum Doping im Westen Deutschlands belegt, dass auch in der alten Bundesrepublik der Staat mitdopte. Nicht wie in der DDR durch einen Staatsplan, durch eine hierarchische Verordnung, aber indirekt durch staatlich finanzierte Dopingforschung, durch jede Menge Toleranz gegenüber den Auswüchsen des Spitzensports und durch Aussagen von Spitzenpolitikern, die man auch als Aufforderung zum Doping interpretieren kann, wenn man es möchte.
Walther Tröger, der ehemalige Generalsekretär und Präsident des Nationalen Olympischen Komitees, sagt: „An eine direkte Ansage eines Politikers zum Doping kann ich mich nicht erinnern, ob das nun Wolfgang Schäuble war oder Hans-Dietrich Genscher. Sie wussten: Die letzte Verantwortung trägt der Sport, nicht die Regierung.“ Der Berliner Wissenschaftler Giselher Spitzer, der für die aktuellen Forschungsergebnisse mitverantwortlich ist, nennt das bundesdeutsche Doping daher kein „systematisches, aber systemisches Doping“.
Doch eigentlich wurde in den vergangenen Tagen mindestens genauso viel darüber diskutiert, was alles nicht in der Studie zu finden ist: Namen von prominenten Athleten vor allem oder direkte Befehlsketten zum Betrug. Im Grunde hat die Studie auch nur bestätigt, was vorher schon bekannt war. Die frühere Leichtathletin Brigitte Berendonk hatte bereits 1969 über das bundesdeutsche Anabolikadoping geschrieben, die Wissenschaftler Gerhard Treutlein und Andreas Singler hatten im Jahr 2000 nach umfangreichen Recherchen über westdeutsches Doping in Forschung und Praxis berichtet und dabei auch Namen genannt.
"Wir konnten das Scheißlied nicht mehr hören", erzählt Ommer - und ging zum Arzt.
Die aktuelle Studie, durchgeführt von Wissenschaftlern der Humboldt-Universität und der Universität Münster, verursachte dennoch viel Wirbel. Doping eignet sich schließlich bestens zur Skandalisierung, und deshalb werden derzeit Wissenslücken auch gerne mal mit Geraune gefüllt.
Die Olympischen Spiele 1972, das direkte Aufeinandertreffen der beiden deutschen Mannschaften, ziehen das besonders an. Auch Rosendahl wurde dazu befragt. „Zu unserer Zeit wurde mal über Aufputschmittel geredet. Aber von Anabolika habe ich zu meiner Zeit nichts gewusst. Mir wurde so was nie angeboten“, sagt sie. Indizien, die auf das Gegenteil schließen lassen, gibt es nicht. Und in welchen Archiven sollen sie noch zu finden sein? Viele Quellen sind ausgewertet, viele Akten auch schon vernichtet, manche Zeitzeugen gestorben.
So bleibt es eine Glaubensfrage, ob nicht tatsächlich auch die Tagesform oder etwas Anderes, Natürliches dieses olympische Finale entscheiden konnten. Und jeder muss selbst entscheiden, ob er in diesem Fall die Unschuldsvermutung anwendet oder sich die Haltung zu eigen macht, die inzwischen etwa im Radsport herrscht: der Generalverdacht gegen alle Athleten.
Einige wenige westdeutsche Athleten haben schon Doping gestanden. Der frühere Sprinter Manfred Ommer tat dies 1977. „Bei meinem ersten Länderkampf, der EM 1971 in Helsinki, saßen wir auf der Tribüne, und wir konnten das Scheißlied nicht mehr hören, das war die Hymne der DDR. Dann gehst du zu deinem Arzt und sagst: Warum haben wir nicht die Pillen?“, erzählte er noch einmal in der vergangenen Woche. Über die Freiburger Sportmedizin, die im Westdoping eine Hauptrolle spielte, sagte er: „Das waren richtige Pilgerfahrten. Im Wartezimmer hat man alles gesehen, was Rang und Namen hatte, aus verschiedenen Sportarten. Und jeder wusste, warum man hier war.“
Die jüngste Forschung hat einige interessante Details gebracht, wie den Verdacht, dass möglicherweise an Minderjährigen Anabolikaversuche durchgeführt worden sein könnten. Neue Gewissheiten gibt es aber nicht. Ein Wert der Studie liegt daher wohl in der Aufforderung an den westdeutschen Sport, Kontinuitäten weiter aufzudecken und sich von ihnen zu lösen. Denn während im Osten Trainer, Ärzte und Funktionäre bestraft und aus dem Sport entfernt wurden, hat dieser Prozess im Westen nie stattgefunden. Er ist bislang an der Selbstgerechtigkeit gescheitert.
Friedhard Teuffel