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Die Leere nach dem WM-Finale 2002. Oliver Kahns Fehler vor dem 0:1 stellte das Spiel auf den Kopf.
© dpa

WM 2018: Anstoßzeit 12 Uhr: High Noon für Gauner

Ein WM-Spiel um 12 Uhr deutscher Zeit ist eine unmögliche Idee? Ganz im Gegenteil, wie der Blick zurück beweist.

Pfosten sein will man ja generell eher selten. Doch selten wollte man weniger Pfosten sein als in diesen Minuten. Als Oliver Kahn an jenem vom Stadion in Yokohama Halt suchte. Am 30. Juni 2002, kurz nach Abpfiff des mit 0:2 verlorenen gegangenem WM-Finales gegen Brasilien. Als der dreimalige Welttorhüter seinen Geist, den die Nation, den die Welt bis dahin mindestens aus Titan, wenn nicht aus einem bisher noch unbekannten Stoff wähnte, für den Moment gebrochen sah. Der Mann, der einen halben Gewaltroller des Brasilianers Rivaldo von der Brust hatte klatschen lassen, direkt vor die Füße von „Il fenomeno“, dem wahren Ronaldo, der nicht sonderlich phänomenal sein musste in diesem schicksalshaften Moment, um Brasilien mit 1:0 in Führung zu bringen.

Gegen diesen Grenzperfektionisten Kahn, der noch nach dem Achtelfinalsieg gegen Paraguay seinen 33. Geburtstag feierte. Mithin ein Anlass, den die gesamte Nationalmannschaft der Legende nach zu einer mindestens ebenso legendären Sause genutzt haben soll und auf der nur einer fehlte, da er sich auf die anstehenden Aufgaben konzentrieren wollte: Jubilar Kahn selbst. Bis heute fragen sich Menschen: Wo warst Du an diesem Tag, als ein Pfosten die Last einer ganzen Nation trug, eine Last, die auf seinen Titanen-Schultern so sicher ruhte bis dahin. Als Kahn mit sich und der Welt allein sein wollte, oder lieber noch: aus der Welt. Wo warst Du, kurz nach dem Abpfiff, um kurz vor 15 Uhr deutscher Zeit.

Um 8.30 Uhr ging es los

Denn die Weltmeisterschaft in Japan und Korea war nicht nur deshalb denkwürdig, weil sie eine deutsche Mannschaft sah, die im Prinzip nur aus Michael Ballack und Oliver Kahn bestand – und dennoch ins Finale kam. Oder deshalb, weil die DFB-Elf ausgerechnet im Finale, gegen Brasilien und ohne Michael Ballack, ihr bestes Spiel machte, ehe Oliver Kahn beschloss, menschlich zu sein. Die WM bleibt auch deshalb bis heute denkwürdig, weil sie aus den Menschen kleine Gauner machte. Die Anstoßzeiten der Gruppenspiele? 8.30 Uhr, 11 Uhr und 13.30 Uhr deutscher Zeit. Ein Albtraum. Ein großer Spaß.

Schulkinder litten spontan an äußerst langwierigen Verstimmungen, deren genaue Ursachen sich partout nicht ermitteln lassen wollten und die aber unbedingt anzeigten, nicht zur Schule gehen zu können. Studenten entdeckten, dass es ein Leben vor zwölf Uhr gibt und die Arbeiter aller (Bundes-)Länder? Vereinigten sich. Leierten ihren Chefs Büro-Fernseher und Fernsehrechte aus den volkswirtschaftlich ach so angespannten Rippen, entdeckten die Dehnbarkeit des Begriffs Mittagspause oder folgten endlich dem ewigen Flexibilitäts-Mantra ihrer Vorgesetzten. So ein Buchhaltungsvorgang geht nach einer kleinen Pause und einem beherzten 3:2 zwischen Belgien und Russland doch gleich viel leichter von der Hand.

Fußball ist großer Unsinn, seine Bedeutung im Leben der Menschen vollkommen überzogen. Wenn er nicht zugleich so ein wunderbares Allheilmittel wäre. Der Fußball öffnet die Schleusen der Unvernunft, ist Ausgleichsventil und Katalysator. Alles, was unter der Woche ins Kontor schlägt, wird auf ein Mal egalisiert. Der unzufriedene Chef, der inkompetente Kollege, der Hausmüll, von dem der Partner nun aber wirklich schon dreimal erwartet hatte, dass man ihn auf seine letzte Reise schicken würde. All das spielt rund um den Fußball plötzlich keine Rolle mehr.

Spätestens mit Anpfiff heißt es dann nur noch: wir gegen die. Was immer das im Einzelnen genau heißt, wie irrsinnig diese Annahme in Zeiten fortwährend wechselnder und damit austauschbarer Spieler auch geworden ist. Fußball ist ganz furchtbar archaisch und ganz wunderbar heilsam zugleich. Beim Fußball stimmen Männer, die lieber freiwillig in Kerkerzellen einwandern würden, als in einem Chor zu singen, ein Lied nach dem nächsten an. Weinen Männer, die Tränen ansonsten nur auf allergische Reaktionen zurückführen. Kommen Frauen und Männer, Frauen und Frauen, Männer und Männer und überhaupt alle Schichten und Ethnien zusammen. Wir gegen die. Dann schimpfen sie auf den Schiedsrichter, den gegnerischen Zehner und die Verbände. Und meinen eigentlich doch nur den unzufriedenen Chef, den inkompetenten Kollegen und den mahnenden Partner.

Legitimierter Ungehorsam

Weltmeisterschaften nun sind das Hochamt dieses Prinzips. Spiele mitten im Tag sind wie hitzefrei auch an regnerischen Tagen, sind Zeit, die man geschenkt bekommt im sonst so auf Funktionalität getrimmten Alltag. Allgemein akzeptierte Ausnahmen. „Entschuldigung, Chef, ich konnte die Präsentation wirklich nicht fertig stellen, gestern war das Finale der Breakdance-Weltmeisterschaft“, funktioniert nicht als Erklärung für das eigene Verschulden. „Entschuldigung Chef, gestern war das Deutschland-Spiel“ hingegen – ein Selbstläufer, der auf das Verständnis aller trifft. Womöglich ist auch das ein Grund dafür, dass Menschen, die es ansonsten nicht so mit dem Fußball halten, während großer Turniere plötzlich zu Fans werden. Schland(wahn)sinn hin oder her: der legitimierte Ungehorsam hat seine ganz eigene Anziehungskraft.

Freuen wir uns also auf auf Frankreich gegen Australien, das einzige Spiel dieser WM, welches bereits um 12 Uhr deutscher Zeit angepfiffen wird. Und rufen jenen, die an diesem Samstag arbeiten müssen, verschwörerisch zu: High Noon für den Ungehorsam, ihr Gauner.

Ilja Behnisch

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