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Im Stile einer Klosterschülerin. In schwarzem Spitzenkleid trug Titelverteidigerin Kerber den Siegerpokal über den Garden Square vor der Rod Laver Arena.
© dpa/Baker

Australian Open: Angelique Kerber fühlt die Last des Listenplatzes

Die Titelverteidigerin aus Bremen spürt in Melbourne den Druck, als Nummer eins der Welt anzutreten. Kann sie ihren Lauf aus dem vergangenen Jahr wiederholen?

Eigentlich gelten die Australian Open unter den Tennisprofis als der „Happy Slam“. Roger Federer hatte den ersten Grand Slam des Jahres einmal so getauft, denn alles sei auf der anderen Seite der Welt eben so locker, sonnig und fröhlich. Jeder käme frisch und erholt aus der Winterpause. Und es fühle sich an wie am ersten Schultag nach den großen Ferien, bei dem man sich freut, alle wiederzusehen.

Angelique Kerber hätte Gründe genug, vergnügt zu sein. Schließlich hatte vor zwölf Monaten im Melbourne Park ihre Wandlung zum Champion und zur besten Spielerin der Welt so furios begonnen. Kerber scheint diese Leichtigkeit jedoch in diesen Tagen weder fühlen noch genießen zu können. Als Titelverteidigerin durfte Kerber ihren silbernen Siegerpokal am Freitag bei der Auslosungszeremonie noch einmal durch den Garden Square vor der Rod Laver Arena tragen. Jedoch wirkte nichts an ihrem Auftritt „happy“.

Dicke Regenwolken hatten den Himmel über Melbourne eingetrübt. Und Kerber trug passend dazu ein biederes schwarzes Spitzenkleid mit weißem Kragen, in dem sie so züchtig aussah wie eine Klosterschülerin auf dem Weg zur Beichte. Dass Novak Djokovic neben ihr seinen Pokal in lockeren Sportklamotten vor sich hertrug, verschlimmerte den Eindruck bloß. Kerber schien die Schwere ihres Inneren mit ihrem tristen Äußeren noch zu untermauern. Es folgte die kleine Plauderrunde vor der Auslosung und Kerber mühte sich, locker zu wirken. Aber es gelang ihr nicht, ihre Anspannung zu verbergen. „Es ist etwas Besonderes, mit dem Pokal wieder hier zu sein“, sagte sie freundlich. Und dass es etwas Besonderes sei, als Nummer eins hier zu sein. Viel mehr hatte Kerber nicht zu sagen, und das war nicht bloß ihrem wackeligen Englisch geschuldet. Ihr Blick wirkte verloren, sie wollte lieber ganz woanders sein. Irgendwo, wo ihr die immer gleiche Frage erspart blieb, deren Antwort sie selber im Moment nicht kennt: Kann sie ihren Lauf von Melbourne wiederholen?

Als neue Frontfrau steht dauernd im Fokus

Vor dem Turnierstart schleichen sich zumindest leise Zweifel daran ein, erinnert ihr nervöses Auftreten doch zu sehr an die French Open in Paris im vergangenen Sommer. Dort hatten sie die Erwartungen und der immense Druck als neuer Melbourne-Champion förmlich eingeschnürt. Damals war Kerber gescheitert, hatte aus dem Tief allerdings gelernt und sich mit dem Einzug ins Wimbledonfinale und dem Sieg bei den US Open von aller Unsicherheit befreit.

In den vergangenen Wochen strahlte Kerber bei den unzähligen Ehrungen und Preisverleihungen. Der Applaus und die warmen Worte taten ihr gut, denn endlich spürte sie den Respekt und die Bestätigung, die sie lange vermisst hatte. Kerber sehnte sich nie nach dem Rampenlicht, nur nach der breiten Anerkennung für ihre Leistungen. Doch die Lobreden sind verklungen, der Tour-Alltag ist zurück. Und wieder muss sie einen Rollenwechsel verkraften. Jetzt ist sie die Beste und damit die Gejagte. Und sie tritt erstmals als Titelverteidigerin bei einem Grand Slam an.

Mit knapp 29 Jahren und zwei Major-Trophäen kann Kerber befreit aufspielen – möchte man meinen. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Kerber hat noch etwas zu beweisen: Sie muss zeigen, ob sie wirklich die Nerven hat, ob sie stabil genug ist, um weiter oben zu stehen. Erste kritische Stimmen, wie jene von John McEnroe, wurden laut. Der US-Altmeister sagte voraus, dass Kerber nicht lange die Nummer eins bleiben werde: „Ihr Aufschlag ist einfach zu schlecht.“ Kerber hatte die Störfeuer in der vergangenen Saison stets gut ausblenden können. „Ich habe mich total auf mich fokussiert und mich von nichts ablenken lassen“, erklärte sie. Und das hieß bei den Grand Slams: zum Training auf die Anlage fahren, danach sofort zurück ins Hotel. Weg vom Trubel, den Fans, den Spielerkollegen. Abschotten, konzentrieren, arbeiten. Das zog Kerber konsequent durch. Doch mit dieser Erfolgsformel ist es nun vorbei.

Als neue Frontfrau hat sie beim Turnier Termine, Verpflichtungen, steht dauernd im Fokus – da fällt es schwer, den eigenen Fokus zu finden. „Es war nicht leicht, mich wieder auf Tennis zu fokussieren“, erzählte sie beim Saisonstart.

In Brisbane und Sydney klappte das nicht. Ihr ehemaliges Management hatte ihr Altlasten hinterlassen, Verpflichtungen, von denen sie ihr neuer Manager Aljoscha Thron nicht mehr befreien konnte. So lenkte Kerber das Drumherum zu sehr ab, sie fand auf dem Platz keinen Rhythmus. Auch weil ihre Gegnerinnen nun zu 150 Prozent motiviert sind. Kerber ist fit, ihr Spiellevel längst nicht so schlecht wie die Ergebnisse. Doch der Kopf ist nicht frei. Und das könnte schon gegen ihre erste Gegnerin, die Weltranglisten-61. Lesia Tsurenko aus der Ukraine, zum Stolperstein werden. Aber Kerber ist eine harte Arbeiterin, sie kann sich in Turniere reinkämpfen. Diese innere Stärke muss sie jetzt wiederfinden. Dann wäre ihr auch dieser Rollenwechsel geglückt.

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