Kolumne Meine Champions: Als Maradona im Marakana zauberte
Der große Fußball ist zurück in Belgrad: Roter Stern empfängt den FC Liverpool. Erinnerungen an ein legendäres Tor in einem legendären Stadion.
Am Dienstag kommt der große Fußball zurück nach Belgrad. Der FC Liverpool gastiert im Stadion Rajko Mitic, das hier alle nur Marakana nennen, weil es so ähnlich geschwungen ist wie die Fußball-Kathedrale in Rio de Janeiro. Der große Fußball war lange nicht mehr hier. Ziemlich genau 26 Jahre hat sich der größte und erfolgreichste und populärste Klub Serbiens um die Aufnahme in die Champions League bemüht, immer vergeblich. Bis es dann Ende August doch noch klappte, mit zwei Toren binnen 77 Sekunden gegen die ewigen Pechvögel aus Salzburg.
Im ersten Heimspiel ging es gegen den SSC Neapel, europäische B-Prominenz, es reichte immerhin zu einem 0:0. Nach zwei weiteren Spielen und zehn Gegentoren kommt nun am Dienstag endlich mal wieder einer der ganz großen Klubs ins Marakana. Das Liverpooler Gastspiel lässt den roten Stern so hell leuchten wie zuletzt 1991 in Bari, beim Gewinn des Europapokals der Landesmeister. Oder wie 1979, als es die Belgrader bis ins Uefa-Cup-Finale gegen Borussia Mönchengladbach schafften.
An das Kunstwerk von Belgrad reicht kein Maradona-Tor heran
Seinen großartigsten Moment aber erlebte das Marakana, als die eigenen Spieler nur als Statisten beteiligt waren. Es geschah dies am 22. Oktober 1982, als der FC Barcelona im Europapokal der Pokalsieger bei Roter Stern Belgrad antrat und 4:2 siegte. Diego Maradona schoss zwei Tore, darunter das vielleicht schönste aller Zeiten. Gewiss, trotz seiner beiden Geniestreiche bei der Weltmeisterschaft 1986 gegen England, dem bösen wie dem guten, als der argentinische Mannschaftskapitän den Ball erst mit seiner göttlichen Hand ins Tor schummelte und später einen selten gesehenen Sololauf über den halben Platz zauberte.
Alles schön und gut, denkwürdige Momente der Fußballgeschichte, aber an das Kunstwerk von Belgrad reichen sie nicht heran.
Das Flutlicht taucht das Marakana an diesem Herbsttag vor 36 Jahren in diffuse Farben. Maradona steht eine Woche vor seinem 22. Geburtstag und befindet sich in der Form seines Lebens. Topfit ohne ein einziges Gramm Übergewicht, gesegnet mit einer Freude am Spiel, wie sie sonst nur kleinen Kindern zu eigen ist. Seine Stimmung aber könnte besser sein. Seit Wochen führt er einen Kleinkrieg gegen Udo Lattek, den ungeliebten Trainer aus Deutschland, der ganz andere Vorstellungen von Moral und Disziplin hat als sein bester Spieler. Auf dem Platz aber ist von dem Zerwürfnis nicht zu sehen. Maradona spielt groß auf und erzielt schnell ein erstes Tor, interessanterweise mit dem Kopf, obwohl ihn die langen Belgrader in der Abwehr allesamt weit überragen, jedenfalls an Statur. Dann beginnt die zweite Halbzeit und die Zeit ist reif für das Meisterwerk.
Es gibt kein Fotodokument von diesem Tor, aber ein kurzes Filmchen, einzusehen bei Youtube. Alles beginnt damit, dass Francisco Carrasco, Maradonas bester Freund in der Mannschaft, ihm den Ball an der Mittellinie kredenzt. Maradona treibt ihn mit kurzen Schritten voran, acht Sekunden lang mit sieben Ballberührungen, alle mit dem linken Fuß. In einer Sichelbewegung vom rechten Flügel nähert er sich dem Tor. Ein erster Belgrader jagt vergeblich hinterher, einen zweiten lässt Maradona ins Irgendwo grätschen. Immer näher kommt er dem Kreidegeviert des Strafraums und macht sich bereit zur Vollendung. Mit der achten Berührung, natürlich wieder mit links, löffelt er den Ball hoch in den Himmel der schwarzen Nacht über Belgrad (sehr viel höher als der tragische Uli Hoeneß an selber Stätte bei seinem Elfmeter im EM-Finale 1976). Die Flugkurve lässt sich schwerlich beschreiben, zur Nachzeichnung stellt man sich am besten einen von Obelix’ Hinkelsteinen vor. Mit reichlich Schnee oben drauf plumpst der Ball zurück ins Irdische und direkt hinter dem jugoslawischen Torwart ins Tor. 120 000 Belgradern stockt der Atem. Und dann jubeln sie. Lauter als bei den beiden Toren ihrer Mannschaft.
Maradona kehrte an den Ort des Geschehens zurück - für einen Film
Auch Emir Kusturica sitzt im Marakana und verliebt sich in diesem magischen Augenblick in Diego Maradona. 25 Jahre später macht sich der serbische Regisseur daran, einen Film über das dramatische Leben seines Helden zu drehen. Kusturica überredet Maradona zu einer Reise nach Belgrad und einem Besuch im Marakana. Don Diego bekreuzigt sich vor dem Betreten des Rasens, er lässt den Ball ein bisschen tanzen, Hacke, Spitze, Einszweidrei. „Diego, zeig mir das Tor!“, ruft Kusturica über den Rasen. Kein Problem. In Lackschuhen löffelt Maradona den Ball in den Belgrader Himmel, der diesmal blau strahlt und nicht schwarz ist wie die Nacht, denn auch die Sonne will zuschauen beim Remake des vielleicht schönsten Tores aller Zeiten.
Sven Goldmann schreibt immer dienstags in den Spielwochen der Champions League über Kicker, Klubs und Klassiker in Europas Fußball.