1. FC Union, FC Vorwärts, BFC Dynamo: Als die DDR ihren Fußballbetrieb revolutionierte
Vor 50 Jahren befand sich der Fußball in der DDR in der Krise. Dann hatte die Staatsführung eine Idee.
Aus der Herzbergstraße, Adresse 128–139, dringen exotische Gerüche hinaus in die kalte, klare Berliner Winterluft. Vietnamesische Lokale servieren dampfende Suppen und Gegartes, Passanten huschen durch kleinere Geschäfte oder stöbern in der großen Markthalle mit asiatischen Lebensmitteln nach fernöstlichen Zutaten. Restaurants reihen sich auf dem Areal aneinander, Lokale, Bekleidungsgeschäfte. Hier pulsiert das großstädtische Leben, nur die Architektur der Gebäude erinnert noch daran, dass an diesem Ort einst einer der größten Industriebetriebe Ost-Berlins angesiedelt war. Im volkseigenen Betrieb Elektrokohle wurden Graphitprodukte hergestellt, aber das spielt am Abend des 18. Januar 1966 nur eine beiläufige Rolle.
Der große Saal im Kulturhaus ist bestens gefüllt, hochrangige Politiker und Werksdirektoren samt Begleiterinnen sind zusammengekommen, um feierlich den FC Vorwärts Berlin, zuvor ASK Berlin, ins Leben zu rufen. Nach der offiziellen Zeremonie wird getrunken und getanzt. Zwei Tage später wiederholt sich einige Kilometer südöstlich in Oberschöneweide der Ablauf, im Kulturhaus des Transformatorenwerkes „Karl Liebknecht“ wird vor zahlreichen Gästen aus dem TSC Berlin der 1. FC Union Berlin. Die zeitliche Nähe der Veranstaltungen ist kein Zufall. Von Dezember 1965 bis Ende Januar 1966 werden in der DDR auf politischen Beschluss hin zehn Fußballklubs gegründet, drei davon in Ost-Berlin. Zum FC Vorwärts, der später nach Frankfurt an der Oder versetzt wird, und dem 1. FC Union gesellt sich der BFC Dynamo, der schon am 15. Januar aus dem SC Dynamo hervorging. Eigentlich sind für die Hauptstadt nur zwei vorgesehen, aber Herbert Warnke, der Vorsitzende des Bundesverbandes des Freien Deutschen Gewerkschafts-Bundes (FDGB), plädiert im Fall von Union für die Gründung eines dritten, weil Berlin seiner Meinung nach einen Fußballklub für die Zivilbevölkerung braucht. Vorwärts ist der Armee unterstellt, Dynamo gehört zur Polizei. Obwohl der Vorgängerklub TSC nur in der zweitklassigen DDR-Liga spielt, bekommt der 1. FC Union als einziger Nicht-Oberligist den Fußballklub-Status. Den Köpenickern wird aber nie die Förderung zuteil wie den Konkurrenten, in Berlin soll der BFC Dynamo als stärkste Kraft konkurrenzlos bleiben.
Andere Neugründungen sind unter anderem der 1. FC Magdeburg, FC Carl Zeiss Jena, FC Hansa Rostock oder der 1. FC Lokomotive Leipzig. Eine Sonderrolle nimmt die SG Dynamo Dresden ein, deren Fußballer zwar in der Sportgemeinschaft bleiben, aber mit allen Rechten der geförderten Fußballklubs ausgestattet werden. In den Jahren nach 1965 werden Dresden und die zehn anderen den ostdeutschen Fußball dominieren, alle Meisterschaften unter sich ausmachen und aufgrund ihrer früheren Erfolge bis heute viele Zuschauer anziehen.
Ulbricht und Ewald zeigten wenig Interesse für Fußball
Im Spätsommer 1965 ist das aber noch Wunschdenken. Der Fußball bereitet der politischen Führung Sorgen. Die Nationalmannschaft hat die Qualifikation für die Weltmeisterschaft in England verpasst und in den Europapokal-Wettbewerben scheitern die ostdeutschen Vertreter früh. Lange war das kein Problem gewesen. „Fußball hatte in den Verbänden oder der Partei kaum Fürsprecher. Entscheidende Personen wie Walter Ulbricht oder Manfred Ewald interessierten sich wenig, weil dieser Sport aus olympischer Sicht nicht medaillenträchtig war“, sagt Hanns Leske, der als Historiker diverse Publikationen über den Fußball in der DDR veröffentlicht hat.
In der Bevölkerung ist der Sport sehr beliebt, ihn zu ignorieren fällt Ulbricht und Ewald, dem Chef des Deutschen Turn- und Sportbundes, immer schwerer. Um in internationalen Vergleichen besser bestehen zu können, beschließt die Staatsführung die Herauslösung der Sektion Fußball aus den Sportklubs. Den Fußballern wird damit ein lange geäußerter Wunsch erfüllt. In den Sportklubs hatten sie sich zwischen Leichtathleten und Turnern benachteiligt gefühlt. Ihr Groll richtet sich unter anderem gegen die eindimensionalen Trainingspläne aus den Ministerien, die keinen Unterschied zwischen den Sportarten machen. Hans Meyer, der spätere Bundesliga-Trainer, sagte einmal: „Hätte ich unter der Woche nach den Vorgaben trainieren lassen, hätte am Wochenende niemand mehr laufen können.“
In den Fußballklubs soll der Sport spezifischer gefördert und die Ausbildung in den Nachwuchsklassen verbessert werden. Trainingspläne nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen werden erstellt. Ein weiterer Grund der Umstrukturierung ist die 1963 erfolgte Gründung der westdeutschen Bundesliga. Dem steigenden Interesse der DDR-Bevölkerung an den Spielen des Klassenfeindes will die Parteiführung mit eigenen starken Klubs begegnen. „Es war auch ein Versuch, das Fanwesen zu kanalisieren“, sagt Leske. Anhänger können sich als „fördernde Mitglieder“ den Klubs anschließen, ohne jedoch Mitbestimmungsrecht nach heutigem Vorbild zu genießen.
Den Fußballklubs werden Privilegien eingeräumt, die sie gegenüber den Betriebssportgemeinschaften bevorteilen. Prämien und Gehälter sind besser, dazu werden die besten Spieler an die Fußballklubs verteilt – delegiert, wie es im Vokabular der Zeit heißt. In Jena freut sich Peter Ducke, der beste ostdeutsche Fußballer seiner Zeit, noch heute über die Neuerungen. „Wir haben zwei bis drei Mal am Tag trainiert, nach neuesten Methoden. Athletik und Beweglichkeit, dazu viel Technik. Nicht mehr nur Konditionsbolzerei“, erzählt Ducke, inzwischen 74 Jahre alt, am Telefon.
Bizarre Gehaltsstrukturen unter Sportlern
Wie alle Fußballklubs ist seine Mannschaft einem Trägerbetrieb zugeordnet, übertragen auf die heutige Zeit lässt er sich mit einem Sponsor vergleichen. Im Fall von Jena ist der Trägerbetrieb das Carl-Zeiss-Werk. Dort sind Ducke und seine Mitspieler faktisch angestellt, arbeiten müssen sie aber nicht, weil sie für den Trainingsbetrieb freigestellt sind. Die Gehälter kommen vom Deutschen Turn- und Sportbund und orientieren sich an der beruflichen Ausbildung, nicht am sportlichen Können. Offiziell gibt es in der DDR keine Profisportler.
Bizarre Gehaltsstrukturen unter Sportlern waren die Folge. Bei den Armeesportklubs wie dem FC Vorwärts Berlin verdiente etwa ein 18 Jahre alter Ersatzspieler mehr als der gestandene Mittelstürmer, wenn sein Dienstgrad höher war. Beim FC Carl Zeiss Jena gibt es in dieser Hinsicht keine Probleme. Im Zuge der neuen Bestimmungen wechseln immer bessere Spieler ins Ernst-Abbe-Sportfeld. Helmut Stein kommt aus Halle, Harald Irmscher aus Zwickau und Lothar Kurbjuweit aus Riesa. Jena spielt regelmäßig um die Meisterschaft mit, 1968 und 1970 gelingt der Titelgewinn, 1972 und 1974 der Pokalsieg. „Das Niveau stieg mit den Spielern, auf einmal fiel es leichter, auch international mitzuhalten“, sagt Ducke. Für ihn war die Gründung der Fußballklubs Voraussetzung für die Erfolge der siebziger Jahre. Der 1. FC Magdeburg siegt 1974 im Europapokal der Pokalsieger, im gleichen Jahr nimmt die DDR zum einzigen Mal in ihrer Geschichte an einer Weltmeisterschaft teil. Zwei Jahre später gewinnt die Olympiaauswahl Gold in Montreal. „Für die Klubs war es von Vorteil, dass sie selber entscheiden konnten und nicht mehr sportfernen Personen unterstellt waren“, sagt Hanns Leske.
Frei von staatlichen Eingriffen bleibt der Fußball dennoch nie. Schiedsrichter treffen fragwürdige Entscheidungen, vor allem der BFC Dynamo, Lieblingsklub von Stasi-Chef Erich Mielke, wird nach dem Dafürhalten des Volkes begünstigt. Zwischen 1979 und 1988 werden die Hohenschönhausener zehn Mal in Folge Meister. Ein ausgeglichenes Kräfteverhältnis herrschte am Ende nicht einmal mehr unter den Fußballklubs.