Jürgen Sparwasser erinnert sich: Als die DDR die BRD bei der WM 1974 besiegte
Hamburg 1974, das einzige deutsch-deutsche Duell der Fußballgeschichte. DDR-Stürmer Jürgen Sparwasser erzählt von dem Tor, das ihn bei der Weltmeisterschaft 1974 berühmt machte.
Vor einiger Zeit sind die deutschen Fans gefragt worden, welche Tore ihnen, im Guten wie im Schlechten, besonders in Erinnerung geblieben sind. Es sind drei: das 3:2 von Helmut Rahn im WM-Finale von 1954, das Wembley-Tor 1966 und das Sparwasser-Tor, mein Treffer zum 1:0 für die DDR im einzigen deutsch-deutschen Duell der Fußballgeschichte. Ich habe einmal gesagt: „Wenn auf meinem Grabstein später nur ,Hamburg 1974‘ stehen würde, wüsste jeder, wer darunter liegt.“ Mein Nachsatz wird leider immer weggelassen: „Hoffentlich wartet der da oben noch ein Weilchen.“
Kein anderer Treffer wird so stark mit meinem Namen verbunden wie dieses Tor bei der WM 1974. Das wichtigste Tor meiner Karriere ist es trotzdem nicht. Das habe ich kurz zuvor erzielt, im Halbfinale des Europacups zum 2:1 für den 1. FC Magdeburg gegen Sporting Lissabon. Ohne diesen Treffer wären wir nicht ins Endspiel gekommen, hätten also auch nicht den Europapokal gewonnen – als einzige Mannschaft überhaupt aus der DDR.
Im Vergleich dazu hatte mein Tor gegen die BRD keinen besonderen Wert. Unsere Gruppengegner Chile und Australien hatten schon am Nachmittag gespielt; nach deren 0:0 stand fest, dass sowohl wir als auch die Westdeutschen für die nächste Runde qualifiziert waren. Ich hatte das Gefühl, dass beide Mannschaften deshalb relativ relaxed in diese Begegnung gegangen sind. Für uns Spieler war das ohnehin kein Kampf der Systeme. Wenn Berti Vogts heute erzählt, dass wir nach dem Spiel keine Trikots hätten tauschen wollen oder dürfen, dann ist das einfach Quatsch. Er selbst war es doch, der den Wäschewagen mit den DFB-Trikots in unsere Kabine gerollt hat und unseren dafür mitgenommen hat. Paul Breitner hat nach dem Abpfiff extra im Gang auf mich gewartet, um mit mir das Trikot zu tauschen.
DDR gegen BRD - das war kein normales Spiel
Natürlich war das kein normales Spiel. Dass nacheinander beide deutschen Nationalhymnen gespielt wurden, wann hat es das sonst gegeben? Schon die Auslosung – die BRD und die DDR zusammen in einer Gruppe – war in Ost und West mit großem Hurra aufgenommen worden. In der Bundesrepublik haben sie wohl gedacht: Jetzt hauen wir denen mal die Hucke voll, wenn wir mit unseren Profis antreten und nicht – wie 1972 bei den Olympischen Spielen – nur mit der Amateur-Nationalmannschaft. Wir waren natürlich der Außenseiter, aber wir wussten auch, dass wir mithalten können. Die Westdeutschen hatten bis dahin alles andere als überragend gespielt. Bei ihrem ersten Auftritt im Volksparkstadion waren sie trotz ihres 3:0-Siegs gegen Australien sogar vom Hamburger Publikum ausgepfiffen und beschimpft worden. Darauf haben wir ein bisschen gebaut. Wir haben das Spiel in der ersten Halbzeit kontrolliert und an der Reaktion der Zuschauer zur Pause konnte man merken, dass sie mehr von ihrer Mannschaft erwartet hatten. Hansi Kreische hatte schon in der ersten Hälfte die große Chance zum 1:0. Hätte er getroffen, würde heute niemand vom Sparwasser-Tor sprechen.
So aber kam es, wie es gekommen ist: Die 78. Minute, ein Abwurf von Jürgen Croy auf die rechte Seite, Erich Hamann läuft mit dem Ball über die Mittellinie und schlägt dann diesen wunderbaren Diagonalpass über 40 Meter auf die linke Seite. Wenn man sich die Szene heute anschaut, muss man sagen: Eigentlich bin ich bescheuert gewesen, überhaupt loszulaufen. Da warteten vier Leute auf mich: Berti Vogts, Horst-Dieter Höttges, Bernd Cullmann und dazu noch Sepp Maier im Tor. Es ist wahrscheinlich eine Frage des Instinkts, es trotzdem zu tun. Und Glück gehört natürlich auch dazu. An und für sich wollte ich den Ball mit der Brust mitnehmen, aber ich habe ihn genau auf die Nase gekriegt. Dass der Ball eine andere Bewegung nach vorne macht, verschafft mir den entscheidenden Vorteil vor Höttges. Was danach kommt, ist aber weder Glück noch Zufall gewesen. Das soll jetzt nicht überheblich klingen, aber die Klasse eines Spielers wie Arjen Robben erkennt man daran, dass er in jeder Situation weiß, was er will. Das war bei meinem Tor auch so.
"Eine meisterliche Aktion", hat Heinz-Florian Oertel im DDR-Fernsehen gesagt
Wenn ich von der Fünfmeterlinie einfach draufplautze, schieße ich wahrscheinlich Sepp Maier an. Also muss ich das Ding verzögern. Deshalb grätscht Höttges ins Leere, und Maier krabbelt wie ein Maikäfer über den Boden, so dass er bei meinem Schuss nicht mehr nach oben reagieren kann. „Eine meisterliche Aktion“, hat Heinz-Florian Oertel im DDR-Fernsehen gesagt.
Was ich danach gemacht habe, kann ich mir bis heute nicht erklären: Ich habe einen Purzelbaum geschlagen. So etwas habe ich nie zuvor und nie danach in meiner Laufbahn getan. Warum ausgerechnet in diesem Moment – ich weiß es nicht. Dass es ein historisches Tor war, daran denkt man in einem solchen Augenblick nicht.
Im Nachhinein hat sich die Freude arg relativiert. Vor der WM hatte ich nie Probleme, wenn ich mit Magdeburg in Leipzig, Dresden, oder Aue gespielt habe. Danach ist mir dort viel Missgunst entgegengeschlagen, vor allem von den Leuten, die im stillen Kämmerlein das Deutschlandlied gesungen haben und uns den Sieg gegen die BRD verübelt haben. Es wurden sogar Gerüchte gestreut, ich hätte als Prämie für das Tor ein Haus und ein Auto bekommen – was einfach nicht stimmte. Die erste Strafe gab es schon am Abend nach dem Spiel. Wir wollten zu dritt auf die Reeperbahn, um den Sieg zu feiern. Unser Quartier in Quickborn wurde damals vom Bundesgrenzschutz bewacht, also haben wir einen der Beamten gefragt, ob er uns nicht nach St. Pauli fahren könne. „Klar“, hat er gesagt, „aber du bleibst hier.“ Wieso denn, wollte ich wissen. „Stell dir vor, dich sieht jemand auf der Reeperbahn. Dann bin ich sofort meinen Job los.“ Die beiden anderen sind dann gefahren, ich musste zu Hause bleiben.
Jürgen Sparwasser