WM 2014: Halbfinale Deutschland - Frankreich 1982: Alain Giresse: "Die Deutschen sind immer fürchterlich effizient"
1982 lieferten sich Deutschland und Frankreich bei der WM in Spanien ein legendäres Halbfinale. Alain Giresse spricht im Interview über Patrick Battiston und Toni Schumacher, die Einsamkeit beim Elfmeter und unendliche Enttäuschung.
Alain Giresse, bei der Weltmeisterschaft in Spanien 1982 starteten Sie mit Frankreich holprig ins Turnier, wurden danach aber immer stärker. Im Halbfinale trafen Sie auf Deutschland. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Paarung, die sich am Freitag in Rio de Janeiro im WM-Viertelfinale wiederholen wird?
Die Stimmung vor dem Spiel war bei uns sehr ernst. Wir waren keineswegs der Favorit. Wir sagten uns: „Wir müssen uns gut präsentieren und von Anfang an dagegen halten.“
Mit Michel Platini hatten Sie damals einen überragenden Einzelspieler im Team und waren für einen mitreißenden Fußball bekannt. In der zweiten Finalrunde hatte Ihr Trainer Michel Hidalgo kurz zuvor sein System von 4-3-3 auf 4-4-2 umgestellt – die Geburtsstunde des berühmten „magischen Vierecks“. Was erwarteten Sie von der deutschen Mannschaft?
Sie war eine starke Einheit und wir hatten Respekt, schließlich hatte sie bei Weltmeisterschaften schon viel erreicht. Unser größter Erfolg bis dahin war das Erreichen des Halbfinals 1958. Sie blickten auf zwei Weltmeisterschaften, EM-Titel und Finalteilnahmen zurück. Verglichen damit waren wir winzig.
Gingen Sie an dieses Halbfinale in Sevilla anders heran als an andere Spiele?
Am Vormittag des Spiels diskutierten wir sehr viel. Schließlich hörten wir damit aber wieder auf, weil uns klar wurde, dass wir die Lösung nicht finden würden. Wir hörten also auf, nur von den Deutschen zu sprechen und sprachen stattdessen von uns.
Gegen Deutschland gerieten Sie dennoch in Rückstand.
Mit diesem Gegentor fing das Spiel für uns erst richtig an. Der Ausgleich bestärkte uns in unseren Bemühungen, er beruhigte uns. Wir merkten, dass wir, je länger das Spiel dauerte, besser in die Partie hinein fanden. Körperlich fühlten wir uns hervorragend, das gab uns die Leichtigkeit, die wir für unser technisches Spiel brauchten.
Dann wurde Patrick Battiston von Toni Schumacher gefoult und musste ausgewechselt werden.
Das hat uns sehr getroffen, aber leider waren wir gezwungen, weiter zu machen. Eine grausame Situation. Er wird auf einer Trage hinausgebracht, und wir müssen weitermachen.
Waren Sie wütend?
Das konnten wir uns nicht erlauben. Wer mit Wut spielt, verliert die Beherrschung. Unser Trainer Michel Hidalgo an der Außenlinie war wütend, wir mussten uns auf unser Spiel konzentrieren.
Diese Attacke auf Battiston veränderte die Kräfteverhältnisse im Stadion.
Wir bemerkten plötzlich, dass wir ein wenig mehr Unterstützung von den spanischen Zuschauern bekamen. Auch die französischen Fans wurden noch einmal wach.
"Wir führten 3:1 und hatten das Gefühl, schon im Finale zu stehen."
Schließlich kam es zur Verlängerung.
Wir waren sehr glücklich, dass wir nicht aufgegeben hatten. Was dann kam, war wie ein Traum. Marius Trésor trifft mit diesem Volleyschuss, danach mache ich das dritte Tor. Wir führten 3:1 und hatten das Gefühl, schon im Finale zu stehen. In unseren Köpfen waren wir schon im Endspiel. Und dann gelingt Rummenigge kurz vor der Halbzeit der Verlängerung der Anschlusstreffer. Und alles kippte...
Dennoch haben Sie weiter auf Angriff gespielt.
Uns fehlte das Berechnende, das man braucht, um ein Ergebnis zu halten. Das ist alles, was man uns vorwerfen kann. Wir waren nicht in der Lage, diese Schlussphase des Spiels richtig einzuschätzen. Also spielten wir weiter nach vorne, nicht unbedingt, um noch ein Tor zu schießen, sondern weil wir von Beginn des Turniers an so gespielt hatten. Alles war auf diese Spielweise ausgerichtet. Aus diesem Spiel haben wir viel gelernt.
Beschreiben Sie bitte den Moment, als Sie das dritte Tor schossen.
Ich dachte: „Wir kommen ins WM-Finale, wir kommen ins WM-Finale, wir fahren da wirklich hin.“ Das ist ein ganz schöner Lärm, der da im Kopf entsteht, das scheppert richtig im Schädel und übertönt alles andere.
Später kam es zum ersten Elfmeterschießen der WM-Geschichte. Hatten Sie Strafstöße trainiert?
Nein, nein. Die Aufstellung der Schützen ergab sich aus den Freiwilligen. „Willst du schießen? Ja? Dann geh!“
Sie waren der erste Schütze.
Und ich fühlte mich wirklich sehr einsam.
Wurde die Enttäuschung über das verlorene Match gemildert, weil sie so außergewöhnlich gespielt hatten?
Nein. Sie war riesig. Es gab nichts, was uns trösten konnte. Dieses ganze Geschwätz von „Ich habe aber ein Tor geschossen“ oder „Wir haben doch gut gespielt“?... Pfff. Da gab es gar nichts. Null! Wir waren untröstlich.
Wurde nach dem Spiel in der Kabine gesprochen?
Nein. Jeder saß heulend in seiner Ecke, am Boden zerstört. Wir fielen in ein schwarzes Loch. Michel Hidalgo versuchte etwas zu sagen ... scheiße! Da kann die ganze Welt ankommen und dir gut zureden, das ist dir egal. Es gab keine Worte, es gab gar nichts mehr. Nichts was man hätte sagen oder tun können. Wir hatten nur einen einzigen Wunsch: uns zu verstecken. Hätte es in dieser Nacht in Sevilla noch einen Flug nach Hause gegeben, wären wir sofort abgehauen.
Können Sie sich das Spiel heute wieder ansehen?
Ja, aber nur bis zum 3:1.
Wie haben Sie die Deutschen im Nachhinein in Erinnerung?
Uns haben sie nicht nachhaltig beeindruckt. Es war eine gute Mannschaft mit starken Spielern. Aber, auch wenn uns vorher bewusst war, dass wir verlieren könnten – so etwas hatten wir nicht verdient.
"Jeder saß heulend in seiner Ecke. Wir fielen in ein schwarzes Loch."
Im Halbfinale der WM 1986 trafen Sie wieder auf Deutschland. Wie konnten Sie im Viertelfinale gegen eine legendäre brasilianische Mannschaft um Zico und Socrates gewinnen und dann gegen ein durchschnittliches deutsches Team straucheln?
Vorher scheinen die Deutschen immer durchschnittlich zu sein, aber sie sind fürchterlich effizient. Natürlich – diese Anmut, diese Magie, die man bei Brasilianern erleben kann, hatten sie nie. Wir waren nicht auf Revanche aus, diesen Fehler machten wir nicht. Ein Sieg hätte ohnehin niemals die Last von uns nehmen können, die wir seit 1982 mit uns herumschleppten. Aber uns fehlte die körperliche und geistige Frische, das Spiel gegen Brasilien hatte seine Spuren hinterlassen. Und dann kriegten wir noch so ein blödes Tor von Brehme. Durch die Hosenträger! Dieser Freistoß ging mir durch die Hosenträger! Über das 2:0 will ich gar nicht mehr sprechen. Vielleicht waren wir einfach zu ausgelaugt. Brasilien hatte uns alles abverlangt.
Wie groß war die Enttäuschung diesmal?
Nichts im Vergleich zu Sevilla. Natürlich waren wir auch dieses Mal enttäuscht, konnten aber anerkennen, dass sie besser waren.
Wie lange haben Sie gebraucht, um über die Niederlage von 1982 hinweg zu kommen?
Das habe ich nie geschafft. Damit kann man nicht zurecht kommen. Man kann nicht etwas auf diese Art und Weise verlieren und dann seinen Frieden damit machen. Man lebt damit, aber es ist so, als würde man einen Angehörigen verlieren und sagen: „Ich habe es vergessen.“ Das ist unmöglich. Selbst der EM-Titel von 1984 hat den Schmerz nicht gelindert. Europameister zu sein ist schon toll, aber dieser Titel konnte nicht verhindern, dass die Spuren von Sevilla für immer bleiben werden. Würde ich mir den Schluss dieses Spiels noch einmal ansehen, würde ich sofort wieder in dieses Leid, in die Enttäuschung von damals zurückfallen.
Haben Sie einige der deutschen Spieler wiedergesehen?
Mit Karlheinz Förster und Klaus Allofs habe ich sogar zusammen gespielt. Auch Schumacher habe ich wiedergetroffen.
Und?
Und? Was wollen Sie denn machen? Sie können nicht wegen jeder üblen Aktion, die im Spiel passiert, einen Groll fürs ganze Leben hegen.
Herr Giresse, heute arbeiten Sie als Trainer. Was haben Sie aus der großen Zeit der französischen Nationalmannschaft mit Ihnen und Platini für Ihre Arbeit als Coach übernommen?
Meine Philosophie wird immer von den Achtzigern geprägt sein. Als Trainer muss man heute noch mehr aufs Ergebnis schauen, aber ich versuche, meinen Spielern Freiheiten zu lassen, ihnen Freude am Spiel, vor allem in der Offensive, zu vermitteln.
Und was ist Ihre schönste Erinnerung an den Fußball?
Nach dem 3:1 in Sevilla raste mein Herz. An meinem Gesicht nach dem Tor kann man Emotionen ablesen, deren Intensität alles übertraf, was ich in meinem Leben bis dahin erlebt hatte. Das ist nur ein einziges Mal passiert. Natürlich kommt es vor, dass man nach Siegen glücklich ist, aber das war eine Momentaufnahme. Ein Höhepunkt, in dem enorme Mengen an Adrenalin freigesetzt wurden. Ein Moment der Ekstase.
Mathieu Gregoire
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