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Zurückbleiben, bitte.
© AFP

Unterwegs bei der WM 2018: 3500 Kilometer in zweieinhalb Tagen - fast alles mit dem Zug

Am schönsten lässt sich das große Russland mit der Bahn erkunden. Moskau – Krasnodar – Rostow am Don – Moskau – St. Petersburg, so reiste unser Reporter.

Mittags um zwölf hält der Zug im Niemandsland. Die Sonne brennt so intensiv durchs Fenster, dass die Klimaanlage kapitulieren würde, wenn es denn eine gäbe. Hinten heult ein Kind, es hat Ohrenschmerzen, bestimmt ganz furchtbare, aber durch das Geheule gehen sie auch nicht weg. Der Nachbar links verzehrt ein improvisiertes Mittagessen mit viel Fleisch und Käse und Knoblauch. Der Nachbar rechts schnarcht. Er hat vor zehn Minuten sein persönliches Sägewerk angeworfen und denkt gar nicht daran, es wieder abzustellen.

Noch zehn Stunden bis nach Moskau.

War vielleicht doch keine so gute Idee mit dieser Reise. Moskau – Krasnodar – Rostow am Don – Moskau – St. Petersburg in zweieinhalb Tagen. 3500 Kilometer für drei Fußballspiele unter der Beteiligung von Messi, Neymar und Salah. „Jetzt bist du völlig durchgedreht“, hat die Frau zu Hause gesagt, aber was verstehen Frauen schon von Abenteuern und Fußball?

Russland ist ein großartiges und vor allem großes Land, am schönsten lässt es sich im Zug erkunden. Ich bin mit der Bahn schon bis nach Murmansk am Eismeer gereist und bis nach Wladiwostok an der russischen Pazifikküste, nebenbei eine perfekte Gelegenheit, Tolstois Krieg und Frieden in einem Stück zu lesen. Gegen die sechs Tage auf der Transsibirischen Eisenbahn sind die bevorstehenden Etappen zwischen dem Schwarzen Meer und der Ostsee überschaubare Kurzstrecken.

Es geht los in der Metro

Das Abenteuer beginnt am Samstagmittag, zwei Tage vor dem Zwischenstopp unter der sengenden Sonne des Niemandslandes, in der Moskauer Metro. Das klingt harmlos und ist doch eine logistische Herausforderung, denn Moskau ist so groß, dass das auch nicht gerade winzige Berlin dreimal reinpasst. Die Anreise zum Spartakstadion im Nordosten der Stadt zieht sich über eine gute Stunde hin. Es hat schon seinen Charme, diese Zeit eingequetscht in der Metro mit sehr fröhlichen Argentiniern und sehr lauten Isländern zu verbringen. Egal, das Spiel ist eine sehr kurzweilige Angelegenheit, mit immer noch lauten Isländern, gar nicht mehr so fröhlichen Argentiniern und Lionel Messi, der tragisch vom Elfmeterpunkt scheitert. Das verlangt jetzt eigentlich nach einer philosophischen Abhandlung in Gedenken an Tolstoi, aber... keine Zeit! Zurück in die Metro, einmal umsteigen bis zum Weißrussischen Bahnhof und dann mit dem Aeroexpress zum Flughafen Scheremetjewo.

Diese eine Flugreise lässt sich leider nicht umgehen – der Nachtzug aus Moskau kommt am Sonntag erst um kurz nach zehn Uhr in Rostow an, und da beginnt zwischen Brasilien und der Schweiz gerade die zweite Halbzeit. Zur Wahrung des AbenteuerCharakters fliege ich allerdings nicht direkt an den stillen Don, sondern nach Krasnodar und dann weiter mit dem Zug (also eigentlich, weil das billiger ist und ich sonst Ärger mit der Chefredaktion bekomme, aber das klingt nicht so romantisch).

Landung nachts um halb drei. Krasnodar liegt im Süden Russlands zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer. Sprühregen, 25 Grad, aber gefühlt mindestens 35. Weil der Taxifahrer mein Hotel nicht kennt, fragt er allerlei Kollegen, der fünfte weiß Bescheid und alle lachen. Ich bin mir nicht sicher, ob das ein gutes Zeichen ist. Um kurz nach vier sind wir endlich da. Der Taxifahrer lacht noch mal, wahrscheinlich über das gute Geschäft, das er gerade gemacht hat. Mir bleiben drei Stunden zum Schlafen, besser zwei, sicher ist sicher. Der Zug fährt um halb acht, und wenn ich den verpasse, ist mein knapp kalkulierter Reiseplan dahin. Der Bahnhof ist laut Hotelbeschreibung 200 Meter weit weg, aber Googlemaps berechnet mir einen einstündigen Fußmarsch mit großer Schleife durch die halbe Stadt. Könnte knapp werden. Kurze Rückfrage bei der Frau am Empfang, sie guckt belustigt auf mein Smartphone und sagt: „Was hast du denn da für eine blöde Karte? Da ist ja die Brücke gar nicht eingezeichnet. Du musst nur an der nächsten Straße rechts abbiegen, danach über die Gleise und schon bist du da.“

Fünf Minuten später stehe ich vor der Brücke und beginne zu ahnen, warum Googlemaps mir die schöne Abkürzung ersparen wollte. Auf nähere Details muss an dieser Stelle leider verzichtet werden, sonst lässt die Frau mich in Zukunft gar nicht mehr von zu Hause weg. Ich überstehe jedenfalls auch dieses Abenteuer. Am Bahnhof verwandelt sich die menschenleere Stadt Krasnodar in eine schweizerisch-brasilianische Exklave. Um die tausend Männer, Frauen und Kinder drängen sich auf Bahnsteig 2. War wohl doch keine so exklusive Idee mit der romantischen Anreise. Banger Blick auf mein Ticket, das neben dem reservierten Sitzplatz vermerkt: „Es können auch Tiere mitreisen.“

Ich teile mein Abteil mit fröhlichen Schweizern, sie singen über Stunden Lieder auf Schwyzerdütsch, von denen ich kein Wort verstehe, was aber auch an den liebevoll geschwenkten Kuhglocken liegen kann. Immerhin sind keine richtigen Kühe an Bord und auch keine Schweine, Schafe, Hühner. Vier Stunden sind es bis Rostow, eine sehr charmante Stadt mit breiten Boulevards und schönen Kirchen. Der Don fließt wirklich so still, wie es das Klischee verlangt. Das Stadion liegt direkt am Strand, wo sie ein paar riesige Leinwände aufgebaut haben. Nachmittags schaue ich mir im Kreis der lieben Freunde aus der Schweiz und Brasilien das deutsche Eröffnungsspiel an und bin der einzige, der beim mexikanischen Siegtor nicht jubelnd aufspringt. Na wartet, Freundchen, wir sehen uns noch!

Wo sind die Kirchen? Wo ist der Bahnhof?

Das abendliche Spiel im immer noch angenehm warmen Rostow endet 1:1 und ist eine eher zähe Angelegenheit. Die Schweizer feiern und die Brasilianer auch – Hauptsache, es ist genug Bier da. Gar nicht so leicht, sich durch die Partygesellschaft einen Weg zum Bahnhof zu erstreiten. Eine Stunde für fünf Kilometer, das sollte kein Problem sein, aber die Polizei sperrt einen der breiten Boulevards und der Umweg zieht sich ewig hin. Verdammt, wo sind die schönen Kirchen und wo ist der Bahnhof? Bei Tageslicht sah das alles ganz anders aus. Das Telefon hat kein Netz, weil wahrscheinlich alle Schweizer gerade zu Hause anrufen. Nur noch zwanzig Minuten, ich muss spurten, und warum ist das hier so warm, mitten in der Nacht?

Es ist eine sportlich gar nicht hoch genug zu würdigende Leistung, dass ich den Bahnhof genau in dem Augenblick erreiche, da via Lautsprecher die Abfahrt des Hochgeschwindigkeitszuges Nummer 151A angekündigt wird. Ich bin der letzte von 50 Fahrgästen im vollbesetzten Liegewagen. Zwei Toiletten, keine Klimaanlage und reichlich Fenster, alle fest verschlossen. Meine Koje ist 50 Zentimeter breit und befindet sich direkt unter der Decke des Zuges. Der Nachbar links streckt seine Füße in die Richtung meines Kopfkissens, der rechte liefert eine erste Kostprobe von der Leistungsfähigkeit seines Sägewerkes. Na ja, es sind ja nur 21 Stunden bis nach Moskau, und irgendwie schaffe ich es auch, fünf davon im Halbschlaf zu verbringen.

Der Rest gestaltet sich lang und weilig. Hochgeschwindigkeitszug Nummer 151A schaukelt im Tempo der Berliner Straßenbahn durch die russischen Weiten. Bis er mittags im Niemandsland stoppt. Die Sonne brennt. Hinten heult das Kind, der rechte Nachbar speist, der linke sägt. Dass es irgendwann weitergeht, bekomme ich nur noch in Trance mit. Auch, dass der Zug auf die Minute pünktlich um 21:05 Uhr im Kasaner Bahnhof von Moskau ankommt. Wie ich mit der Ringbahn den Weg ins Hotel gefunden habe, daran kann ich mich nur noch schemenhaft erinnern, als am nächsten Morgen um halb sechs der Wecker klingelt.

Auf zur letzten Etappe

Nochmal in die Metro, zum Leningrader Bahnhof, den sie anders als die Stadt nicht umbenannt haben. Auf zur letzten Etappe nach St. Petersburg, vier Stunden im diesmal in der Tat superschnellen Superschnellzug Sapsan zum Spiel der Russen gegen Ägypten. Neben mir fällt ein Mexikaner in den Sessel. „Du ahnst nicht, was ich hinter mir habe“, seufzt er und erzählt von der Party nach dem Sieg gegen die Deutschen hier in Moskau. „Ich hab’ nur drei Stunden geschlafen und muss jetzt schon wieder ewig in diesem Zug sitzen. Wahnsinn!“

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