Interview mit Christoph Meinel vom HPI Potsdam: „Wir werden gläserner“
Christoph Meinel, Chef des Hasso Plattner Instituts, spricht im PNN-Interview über Missbrauch durch Big Data, den gläsernen Menschen, unsere Bequemlichkeit und die Pioniere des Wilden Westens.
Herr Meinel, die umfassende Digitalisierung macht auch Hacker-Angriffe möglich, ganze Industrieanlagen sind gefährdet – sogar Kriege könnten so geführt werden. Hat die IT-Forschung das Problem erfasst?
Industrie 4.0 fokussiert auf den Bereich der Industrieproduktion unter den Bedingungen der aufziehenden digitalen Welt. Maschinen kommunizieren miteinander, um den Produktionsprozess ablaufen zu lassen. Wenn nicht gewährleistet ist, dass die Kommunikation zwischen den Maschinen und die Verbindung zwischen den die Maschinen steuernden digitalen Zwillingen mit den darunterliegenden Maschinen völlig abgesichert ist, könnte tatsächlich jemand den Produktionsprozess von außen stören. Da könnten Produktionsabläufe beispielsweise von der Konkurrenz behindert werden, im ganz großen Maßstab wären sogar Terrorangriffe auf kritische Industrieinfrastrukturen denkbar, die für die Stabilität von Gesellschaften wichtig sind. Sicherheitsaspekte sind deshalb auch beim Thema Industrie 4.0 ein ganz zentrales Thema für unser Institut. Im HPI beschäftigen wir uns dazu konkret mit Themen der Authentifizierung und Autorisierung, der Absicherung der Kommunikation und der Überwachung der Systeme.
Was ändert sich durch die Digitalisierung für jeden Einzelnen?
Hier sind ganz neue Charakteristiken entstanden. Wir können heute Gedanken fast in Lichtgeschwindigkeit an jeden Ort der Welt bringen. Was digital erfasst ist, lässt sich nicht mehr löschen. Kopieren kostet nichts und so fort. Das alles hat gewaltige Auswirkung auf unser Leben, auf Wirtschaft und Gesellschaft. Die Bibel abzuschreiben, war noch das Lebenswerk eines Mönches. Heute lassen sich riesige Inhalte auf Knopfdruck und fast ohne Kosten kopieren. Mit diesen Veränderungen müssen wir erst einmal lernen umzugehen. Dafür gibt es keine Anleitung, wir können nicht schauen, wie haben das frühere Generationen gemacht. Und wie immer, wenn etwas Neues passiert: Es gibt die Pioniere, die Teilhaber und die Skeptiker. Eine Ablehnung hat aber keine Chance, denn unsere ganze Gesellschaft wird von dem Wandel erfasst – ob wir wollen oder nicht.
Geben die Fälle von Datenmissbrauch den Skeptikern recht?
Ob alles, was technisch möglich ist, gesellschaftlich auch sinnvoll ist, muss sich im Einzelfall erst zeigen. Meist gehen Menschen und die Gesellschaft nach dem Trial-and-Error-Prinzip vor: Eine neue Technik wird ausprobiert, bis sich die damit verbundenen Konsequenzen offenbaren. Es wird also noch eine ganze Weile dauern, bis wir alle Konsequenzen des digitalen Wandels erkannt und uns auf diese eingestellt haben.
Vor welche Probleme stellen uns die digitalen Identitäten?
Im Zuge der Digitalisierung bekommt jeder Mensch einen oder mehrere digitale Zwillinge, die sogenannten digitalen Identitäten. Die sind IT-technisch ansprechbar beispielsweise über eine E-Mail- Adresse oder eine URL. Auf diese Weise entsteht eine zweite Ebene zur Interaktion: Neben der üblichen physischen Interaktionsebene kann man mit einem anderen Menschen über deren digitale Zwillinge kommunizieren. Wir können online einkaufen, ohne einen Laden zu betreten. Dazu muss der digitale Zwilling des Shops wissen, wem er was verkauft, also welcher Kunden mittels seiner digitalen Identität was bei ihm bestellt und bezahlt. In der Praxis kommt es nun häufig vor, dass Menschen mehrere Identitäten im Internet haben. Diese enthalten alle Daten, die für den jeweiligen Dienst gebraucht werden: unter anderem E-Mail-Adresse, Name, Adresse, Bankverbindung, Kreditkartennummer. Die Herausforderung ist nun, herauszufinden, wie eine digitale Identität mit der realen Identität verknüpft ist. Wenn das nicht ordentlich gemacht wird, ist riesiger Missbrauch möglich – etwa, dass sich jemand als eine andere Person ausgibt, auf deren Kosten einkauft und andere Dinge macht. Auch in diesem Bereich sind wir noch in einer Lernphase.
Reichen die Passwörter nicht aus?
Passwörter sind ein sehr unsicherer Mechanismus. Es braucht bessere Techniken, um den Zusammenhang zwischen der physikalischen und der digitalen Identität zweifelsfrei herstellen zu können. In der Smart-World, in der auch die Interaktion mit und zwischen Maschinen hinzukommt, wird es außerordentlich wichtig, dass die eindeutige Verknüpfung zwischen digitalem Zwilling und dem jeweiligen Objekt unangreifbar ist. Das ist ein Forschungsthema, mit dem wir uns aktuell am HPI beschäftigen.
Lässt es sich noch verhindern, dass wir immer mehr zu gläsernen Menschen werden?
Auf eine solche Entwicklung wird man sich einstellen müssen. Am Ende hängt es aber auch von individuellen Verhaltensweisen ab. Beispielsweise haben die Nutzer heute die Wahl, ob das Handy den jeweiligen Aufenthaltsort erfasst und bekannt gibt oder nicht. Das ist eine freie Entscheidung. Die Mehrheit entscheidet sich heute für die Ortserfassung, einfach um bestimmte Anwendungen, die das Leben bequemer machen, nutzen zu können. Man muss aber überlegen, ob man wirklich alle Konsequenzen bedacht hat und den Nutzen gegen den möglichen Schaden, nämlich auf Schritt und Tritt getrackt zu werden, abwägen. Letztlich stimmt es: Wir werden gläserner – und es bedarf eines neuen Begriffs von Privacy.
Wie soll der aussehen?
Das muss die Gesellschaft erst aushandeln. Auf dem Weg dahin wird es sicherlich auch einige Unfälle geben. Die sind aber unvermeidbar, um eine vernünftige Linie zu finden.
Wie reagiert das HPI darauf? Unterrichten Sie die angehenden Softwaresystemtechniker nun auch in digitaler Ethik?
Wir haben ein Softskill-Colloquium, in dem sich die Studierenden neben den IT-Kompetenzen auch mit Dingen beschäftigen, die mit ihrem zukünftigen Beruf zusammenhängen. Dabei spielen natürlich auch solche Fragen eine wichtige Rolle. Im Zentrum steht für uns die Ausbildung von IT-Experten, die neue IT-Systeme entwickeln und so die neue digitale Welt gestalten. Und natürlich müssen die ihre Tätigkeit reflektieren können im Hinblick auf die Konsequenzen für unser persönliches und gesellschaftliches Leben.
Das Thema wird mittlerweile auch von der Philosophie aufgegriffen.
Auch das braucht seine Zeit. Die Gesellschaft ist noch lange nicht richtig vorbereitet auf den bevorstehenden Wandel. Auf der einen Seite sehen wir die Verheißungen der neuen Technik, auf der anderen Seite braucht es Zeit, vernünftige gesetzliche Regelungen zu schaffen, damit diese Technik zum Wohle aller eingesetzt wird. Dabei ist die Frage, wie mit persönlichen Daten umzugehen ist, ganz zentral.
Sie sagen, es braucht Zeit. Aber die Entwicklung ist so schnell, dass es bis dahin wieder ganze neue Fragen geben wird.
Tatsächlich sind die Entwicklungsfortschritte heute atemberaubend schnell, was mit dem rapiden Fortschritt der Computer- und Netzwerktechnik zusammenhängt. Vor 60 Jahren hatte der Chef von IBM noch prognostiziert, dass man weltweit wohl fünf Rechner brauche, um alle gängigen Fragen zu lösen. Heute trägt jeder Mensch einen oder sogar mehrere Computer mit sich herum, vom Smartphone bis hin zur Uhr mit Internetanschluss. Dieses Tempo ist natürlich eine große Herausforderung für das gesellschaftliche Lernen.
Die individuelle Realität der Nutzer wird bereits für Werbung ausgewertet. Kritiker sagen nun, dass der nächste Schritt sein könnte, das Leben der Menschen gezielt zu beeinflussen. Wie muss man sich das vorstellen?
Es ist absehbar, dass die Menschen aus Bequemlichkeit auf vielerlei eigene Entscheidungen verzichten werden. Durch Auswertung unseres Verhaltens zeigen uns die intelligenten IT-Systeme der Zukunft nur die Informationen an, die uns interessieren. Dieses Wissen, was uns interessiert, haben die Systeme durch Beobachtung unseres Verhaltens in der Vergangenheit gewonnen. Oder Einstellung und Nutzungsbedingungen werden automatisch vorangepasst an unser beobachtetes Verhalten und unsere Vorlieben. Das ist allerdings ein Prozess, bei dem man noch nicht sagen kann, wohin er führt und wo er enden wird. Das sind Entwicklungen mit vielen widerstreitenden Kräften. Ich vergleiche das gerne mit der Besiedlung des Wilden Westens Amerikas.
Wie meinen Sie das?
Erinnern Sie sich nur an die zahlreichen Western: Die frühen Pioniere haben wagemutig das Land besiedelt. Dann kam die Zivilisation nach und Recht und Ordnung wurde eingeführt, nicht immer zur Freude der Pioniere. Bei der Besiedlung der digitalen Welt spielt sich etwas Ähnliches ab. Es gibt die Pioniere, denen wir dankbar sein können, dass sie uns gezeigt haben, was technisch alles möglich ist. Diese Vorreiter müssen dann aber auch verstehen, dass die Antwort der Gesamtgesellschaft auf die Entwicklungen differenzierter ausfällt, dass man an einigen Stellen noch weiter nachdenken, neue Lösungen finden und liebgewordene Gewohnheit aufgeben muss. Es geht letztendlich darum, dass auch die Schwachen die Chance zur Teilhabe bekommen und nicht über den Tisch gezogen werden.
Das Gespräch führte Jan Kixmüller
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