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Abtrünnige Eismassen. Im März 2008 beobachteten Forscher der British Antarctic Survey das Herausbrechen großer Eisschollen aus dem Wilkins Eisschelf in der Antarktis. Klimaforscher befürchten nun, dass das dortige Klimasystem bereits gekippt sein könnte. Dadurch würde ein jahrhundertelanger Prozess der Eisschmelze starten.
© AFP

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Forscher des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) halten es für möglich, dass das Klimasystem in der Westantarktis gekippt sein könnte, und das Eisschild unaufhaltsam abtauen wird. Das hätte auch direkte Auswirkungen für Europa

Klimaforscher schlagen Alarm: Die Eismassen im Umfeld der antarktischen Amundsen See könnten als Folge der globalen Erderwärmung bereits instabil geworden sein. Forscher des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) schreiben in einer aktuellen Studie, dass das Eisschild in der West-Antarktis als mögliches Kipp-Element des Klimasystems bereits in einen anderen Zustand gewechselt sein könnte. Kipp-Elemente gelten als sehr sensible Funktionssegmente des Erdsystems. Über kritische Schwellenwerte hinaus belastet können ihre Prozesse im Gesamtgefüge „kippen“ und von da an grundsätzlich anders ablaufen.

Obwohl der nun beobachtete Prozess sich am Südpolarmeer abspielt, hätte der Abbruch des westantarktischen Inlandeises auch einen direkten Einfluss auf Europa. Und zwar einen äußerst drastischen. Wie der Leiter des PIK-Forschungsteams Anders Levermann in der Fachzeitschrift Climatic Change schreibt, würde ein komplettes Abtauen des Eisschilds der Westantarktis einen weltweiten Meeresanstieg von 1,5 Metern bedeuten. „Die meisten Deiche in Europa können um nicht mehr als einen Meter erhöht werden“, heißt es in der Studie. Danach müsste das Hinterland verändert werden. „Selbst wenn der vollständige Zerfall des Eisschildes der Westantarktis hunderte von Jahren dauern würde, wären die Auswirkungen erheblich“, so die PIK-Forscher.

Hinzu käme ein zweiter gravierender Effekt. Neben dem globalen Meeresspiegelanstieg durch das Schmelzwasser erwarten die Forscher auch, dass sich die Erdanziehungskraft in Richtung Südpol verringert: „Wo Masse schrumpft wird auch die Gravitation weniger.“ Dadurch könnte der Meeresspiegelanstieg in Europa sogar noch verstärkt werden. „Wir zeigen hier nur eine Momentaufnahme des Wissensstands, aber sie ist in mancher Hinsicht schärfer als die zuvor gemachten“, erläutert Anders Levermann. Die Forscher gehen von sechs potenziell instabilen Regionen im Klimasystem aus, deren Änderung starke, direkte Folgen für Europa hätte. Neben dem Antarktiseis werden unter anderem auch die Alpengletscher und der Nordatlantikstrom als Kipp-Elemente untersucht. „Die Wahrscheinlichkeit des Kippens dieser Elemente steigt im Allgemeinen mit dem Anstieg der globalen Mitteltemperatur, als Folge des von Menschen verursachten Ausstoßes von Treibhausgasen“, so Levermann.

Der Kipp-Punkt des Klimasystems Westantarktis könnte bereits erreicht sein, konkretisiert Jacob Schewe vom PIK-Team gegenüber den PNN das Ergebnis der Studie. „Es ist möglich, dass wir diesen Punkt bereits überschritten haben oder, dass er in naher Zukunft liegt.“ Das komplette Abschmelzen des Eisschildes der Westantarktis würde zwar einige Jahrhunderte oder länger dauern. „Die entscheidende Frage ist nun aber, ob dieser Prozess noch zu stoppen ist.“ Vielleicht reiche die Störung, die durch den menschengemachten Klimawandel bislang verursacht wurde, bereits dazu aus, die Eisschmelze unabänderlich anzustoßen. Die Forschung könne allerdings nicht genau sagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Kipp-Elemente ihren Zustand ändern. „Das ist die unberechenbare Seite des Klimawandels“, so Schewe.

Die Einschätzung, dass in der Westantarktis bereits ein Kippen vonstatten geht, beruht nach Angaben von Schewe unter anderem auf der Auswertung von Satellitenbildern und Daten von Forschungsstationen. „Wir beobachten, dass die Rate, mit der Eisschelfe abbrechen, zugenommen hat“, erklärt Schewe. Das betreffe Gebiete von mehreren 1000 Quadratkilometern. Was wiederum die Dynamik des gesamten Eisschildes beeinflusse. „Das bedeutet, dass durch das Abbrechen der Eisschelfe am Rande auch die Geschwindigkeit, mit der das Eis vom Kontinent in den Ozean abfließt, zunimmt.“ Nun könnte es sein, dass so viele Schelfe abbrechen und der Wasserabfluss so sehr beschleunigt wird, dass dieser Prozess auch bei einer Verlangsamung der Erderwärmung nicht mehr aufzuhalten ist. „Wir müssen beim Klimawandel mit großen Überraschungen rechnen“, fasst der Physiker zusammen. Die Annahme, die derzeitigen Treibhausgasemissionen könnten noch 20 Jahre unverändert weiter laufen, sei zu kurz gegriffen. „Es gibt eben Prozesse, die dann bereits in Gang geraten sein können – unumkehrbar.“

Für die Studie hatten sich einzelne Experten der verschiedenen möglichen Kipp-Elemente erstmals zusammengetan, um einen aktuellen Überblick zu bekommen. „Diese Vorgänge zu verstehen ist von entscheidender Bedeutung als Grundlage künftiger gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entscheidungen“, erklärt Levermann. Die Wissenschaft müsse, unter Hinweis auf mögliche Unsicherheiten, Betroffene und Entscheider über die Wahrscheinlichkeiten und mögliche Wirkungen von klimatischen Übergängen informieren. „Einfach Abwarten ist keine Alternative.“

Neben der Westantarktis betrachten die Forscher auch das arktische Meereis und die Gebirgsgletscher der Alpen. Diese seien besonders empfindliche Kipp-Elemente. Die beiden Systeme würden am stärksten auf die Erderwärmung reagieren, lautet die Einschätzung des PIK-Teams. So könnte ein Rückgang des arktischen Meereises direkt Einfluss auf die atmosphärische Zirkulation über dem Nordatlantik und damit auch auf die nach Europa ziehenden Stürme haben.

Ein Abschmelzen der Alpengletscher könnte wiederum Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von Wasser in der Region haben. Bezüglich des Kippens der nordatlantischen Ozeanströmung, dem Nordarm des Golfstroms, wollten sich die Forscher allerdings nicht festlegen. „Im Gegensatz zu den anderen Kipp-Elementen bleibt die Unsicherheit auch bei starker Erwärmung hoch“, heißt es in der Studie. Weitere Kipp-Elemente wie etwa die Gletscher des Himalaya, der indische Monsun oder das Abtauen der sibirischen Permafrostböden wurden in der Studie nicht detailliert untersucht, weil von ihnen keine direkten Auswirkungen für Europa ausgehen. „Allerdings sind indirekte Auswirkungen durchaus wahrscheinlich“, so die PIK-Forscher.

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