Sport: Unfreiwillige Souvenirs
Atdhe Gashi will nach Rio. Auf dem Weg dahin steckt der Potsdamer Boxer auch unliebsame Andenken ein
Das Souvenir seiner letzten Reise trägt Atdhe Gashi noch immer bei sich. Ein Cut über dem rechten Auge ist ein Andenken aus Polen, das der Potsdamer Boxer Ende November aus Kalino mitgebracht hat. Dort boxte das Leichtgewicht bei einem Ländervergleich im Dress der deutschen Nationalmannschaft, drei Sekunden vor Kampfende gab ihm sein Gegner noch die unliebsame Erinnerung mit auf den Weg. Gut zwei Wochen später stand Gashi in Heidelberg nochmals in nationaler Mission im Ring – und verlor gegen einen Russen. „Lief beides nicht gut“, sagt der 25-Jährige.
Aus dem Riss über der Augenbraue ist inzwischen eine kleine Narbe geworden. „Die wird wohl bleiben“, sagt Gashi, während er eine Frühlingsrolle in süß-saure Soße dippt. Mehr gab es am Donnerstag nicht zum Mittag. „Ich muss Gewicht machen“, sagt Gashi. „Ich habe zwei Kilo zu viel.“ Am morgigen Samstag darf die Waage nur 60 Kilogramm anzeigen, dann boxt er für Motor Babelsberg in der Bundesliga.
Der letzte Kampftag wird Gashis erst zweiter Einsatz für die Motor-Staffel in dieser Saison werden. Nachdem er im Oktober die deutsche Meisterschaft gewann, stieg er lediglich für die Nationalmannschaft in den Ring. Gashi braucht Gegner von internationalem Format, denn sein Ziel sind die olympischen Spiele 2016 in Rio. „In Deutschland“, sagt er, „kann mich keiner schlagen.“ Wenn er das sagt, klingt das alles andere als überheblich. Selbstbewusst? Sicher, das ist das Leichtgewicht ohne Frage. Vielmehr aber ist es die ganz pragmatische Erkenntnis, dass der deutsche Amateurboxsport derzeit nicht zur Weltspitze gehört. Doch da will der Potsdamer hin, „ich weiß, dass ich da mithalten kann“, sagt er. Die Erkenntnis hat er gewonnen, als er verloren hat: Im vergangenen April beim Chemiepokal bestritt er seinen ersten internationalen Boxkampf – gegen den Weltmeisterschaftsdritten Berik Abdrakhmanov aus Kasachstan. „Der hat mich sofort spüren lassen, dass er der Chef ist“, erinnert sich Gashi. „Er war bislang der einzige Gegner, der mir das Gefühl gegeben hat, absolut selbstsicher und ohne Zweifel zu sein. Der war einfach cool.“ In Deutschland könne ihm kein Leichtgewichtsboxer dieses Gefühl bieten.
Das nächste Ziel sind im Juni die Eurogames in Baku, eine Art vorolympische Spiele für Europa. Gashi lässt keinen Zweifel aufkommen, dass er sich qualifizieren wird. Überhaupt: Er könne auf dem Weg nach Rio nur an sich selbst scheitern, sagt er. Die Gegnerschaft im eigenen Land müsse sich schon viel einfallen lassen, „um mich wegzuräumen. Die wird Rio nicht verhindern.“ Gashi wäre nach Manfred Wolke, der 1959 seine Box-Karriere in Babelsberg begann und 1968 in Mexiko Gold gewann, der zweite Potsdamer Boxer, der es zu den Olympischen Spielen schaffen würde.
Es wäre das Ziel einer langen Reise, die im Kosovo begann. Dort ist Atdhe Gashi geboren und aufgewachsen. „Ich hatte die beste Kindheit überhaupt, denn ich bin bei meinen Großeltern aufgewachsen.“ Schule, Hausaufgaben, früh ins Bett gehen – was in Deutschland streng geregelt sei, war für ihn eine lockere Angelegenheit. Als er ein kleiner Junge war, habe ihm sein Vater ein Video vom legendären Kampf zwischen Muhammad Ali gegen George Foremann gezeigt, aber begeistert habe ihn das damals nicht. „Ich wollte immer Fußball spielen“, erzählt Gashi. Als er zwölf war, holte ihn sein Vater nach Rosenheim. Atdhe Gashi kann sich noch an den Tag erinnern, an dem er dort erstmals zur Schule ging. „Der 8. Dezember, ich war in der sechsten Klasse und das erste Halbjahr war schon fast vorbei.“ Er habe kein Wort Deutsch gesprochen, sei die ersten drei Monate nicht aus dem Haus gegangen. „Ich wollte erst rausgehen, wenn ich was verstehen und sagen konnte.“ Stundenlang habe er Wörterbücher gelesen, „im zweiten Schulhalbjahr waren meine Noten gut genug, dass ich nicht sitzen geblieben bin.“
Boxen wurde dabei auch zum Sprachtraining. In Rosenheim hatte ihn sein Vater zum Boxen überredet. „Also bin ich zum Training gegangenen, habe schnell Spaß gehabt und schnell gelernt.“ Nicht nur die deutsche Sprache, sondern auch das Abc des Boxens. Nach ein paar Wochen wurde Gashi bayerischer Nachwuchsmeister. Zehn Jahre boxte er in Rosenheim, bis ihn Motor-Boxtrainer Ralph Mantau vor drei Jahren nach Babelsberg holte. Eine glückliche Fügung. „Er ist vielleicht der Einzige, der mein Potenzial erkannt hat und es seitdem fördert und unterstützt“, sagt Gashi über Mantau. Nicht nur sportlich. „Die deutsche Staatsbürgerschaft habe ich bekommen, nachdem ich nach Potsdam gezogen bin“, sagt er.
Atdhe bedeutet Heimat. „Heimat wird für mich immer im Kosovo sein“, sagt Gashi. Doch in Babelsberg ist er gereift – zum derzeit besten deutschen Leichtgewichtsboxer. In der Motor-Sporthalle am Konsumhof wurde Gashis Ticket für die Nationalmannschaft mit Trainingsschweiß gestempelt und das Gold der deutschen Meisterschaft geschmiedet. Das Autohaus in der Großbeerenstraße, in dem für die Heimkämpfe der Babelsberger Boxring gespannt wird, liegt vis-à-vis seiner Wohnung – ist fast wie ein Wohnzimmer. „Ich fühle mich wohl in Potsdam“, sagt Gashi, obwohl er inzwischen viel in Berlin am Bundesstützpunkt trainiert. Vormittags zwei Stunden, dann Mittagsruhe auf den Sportmatten in der Boxhalle, nachmittags zwei Stunden. Dem Training ordnet Atdhe Gashi alles unter, dafür hat er auch seine Ausbildung zum Parkettleger aufgegeben. „Ich war nach der Arbeit zu kaputt fürs Training, bei Kämpfen war ich der letzten Runde immer müde“, sagt Gashi. Er habe sich entscheiden müssen. „Meine Ziele will ich mit Sport erreichen“, meint Gashi. Und wenn das Ziel am Ende tatsächlich Rio de Janeiro heißt, wird er auf den Etappen dorthin weiter schmerzhafte Souvenirs mitnehmen.
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