Porträt über Marita Erxleben: Tanzen wie die Großen
„Lenja und das Salzkristall“ ist das 20. Kinderballett, das Marita Erxleben am Hans Otto Theater inszeniert. Eine Erfolgsgeschichte
Potsdam - An das erste am Hans Otto Theater im großen Stil aufgeführte Stück ihrer Schüler kann sich Marita Erxleben gut erinnern. Im großen Stil hieß damals, raus aus dem Ballettstudio, rauf auf die Probebühne, die sich in der Heinrich-Mann-Allee befand. Ein kleiner Raum für 99 Zuschauer. Die Karten für „Dornröschen“, zwei Vorstellungen, waren ruckzuck weg gewesen. „Ich habe doch nicht damit gerechnet, dass außer den Eltern noch fremde Besucher kommen würden“, sagt Marita Erxleben. Und dann regnete es auch noch – die Umkleide aber war außerhalb in einem Container untergebracht. „Wir haben tatsächlich alle Kinder in ihren Kostümen durch den Regen getragen.“
Es ist jetzt 20 Jahre her, dass der damalige Intendant Ralf-Günter Krolkiewicz ihre Idee, einmal im großen Theater tanzen zu dürfen, unterstützte. „Das ist ein ganz anderes Erlebnis als im kleinen Studio“, sagt die Tanzpädagogin und Choreografin, die 1994 ihr eigenes Studio gegründet hatte. Jenes erste Stück war ein großer Erfolg. Ein Jahr später plante sie schon vier Vorstellungen. Und bat dann, 1998, auf die große Bühne gehen zu dürfen. In der sogenannten Blechbüchse, jenem monströsen Interimsbau auf dem Alten Markt, bevor der Neubau in der Schiffbauergasse fertig wurde. Marita Erxleben war glücklich. Es funktionierte, die Kinder und das Theater – das passte.
Seitdem hat sie jedes Jahr ein Ballettstück mit ihren Eleven im Hans Otto Theater aufgeführt. Märchen, Ballette oder eigene Stücke, gern mit aktuellem Bezug. Das 20. Stück in diesem Jahr ist ein slowenisches Volksmärchen, „Lenja und der Salzkristall“ nach der Musik von Edvard Grieg, das Erxleben, die auch als freie Regisseurin arbeitet, inszeniert. Mit 860 kleinen und großen Tänzern in sechs Besetzungen für insgesamt 18 Aufführungen. Der Jahresabschluss und Höhepunkt für alle Eleven. Ein Mammutprojekt. Und wie immer ausverkauft. Am heutigen Samstag ist Premiere.
Seit Monaten wird dafür geprobt. Manchmal, ohne dass die Schüler es merken. „Es soll ja Spaß machen, nicht Stress“, sagt Erxleben. Stück für Stück werden also die Elemente und Teile im Unterricht gemeinsam mit den Schülern erarbeitet und zuletzt zusammengesetzt. Es ist Erxleben wichtig, dass die Schüler sich einbringen können, hinter dem Produkt, ihrem Stück, stehen. Das Besondere ist zudem, dass jedes Kind eine Rolle bekommt. In jedem Stück gibt es reichlich Gruppenszenen für jede Menge Bauernmädchen, Meerjungfrauen oder Zwerge, Häschen, Wölfe, Bäumchen oder Farne. Auch wer erst wenige Monate dabei ist, macht mit.
Die Kleinsten sind fünf Jahre alt, die großen Solisten bis über 30 Jahre. Auch das ist Marita Erxleben wichtig: Dass man semiprofessionell tanzen kann, ohne gleich eine berufliche Laufbahn als Tänzer zu verfolgen. „Ich möchte, dass jeder entdeckt, was in ihm steckt“, sagt Erxleben. „Dass er Mut hat, es anzuwenden. Und dann entscheidet, wie viel er geben möchte.“ Es gehe auch nicht nur ums Tanzen. Bei so einem Projekt gehe es um soziale Kompetenzen, um Empathie, Rücksichtnahme und Verantwortung. „Ich freue mich immer, wenn ich sehe, wie die Kinder gegenseitig auf sich aufpassen, wenn zum Beispiel einer etwas auf der Bühne verliert und ein anderer es sieht und aufhebt. Das ist toll.“
Künstlerisch wird längst nicht mehr nur Ballett gemacht. In der Tanzakademie wird Breakdance und Hiphop, modern und gemixt unterrichtet und dann auch im Stück getanzt. Das zieht auch Jungs an. Erxleben bietet sogar eine reine Jungs-Tanzklasse an, etwa 40 Jungs tanzen dieses Mal beim Sommerstück mit.
Und wie in jedem Jahr ginge nichts ohne die Eltern. Die ihre Kinder zu den Proben fahren, die sich um die Betreuung während der Pausen kümmern, Kostüme nähen, Kinder schminken, frisieren und anziehen, Haarnadeln verteilen, Schuhe binden und darauf achten, dass die Kleinsten vor dem Auftritt ihr Angst-Pipi nicht vergessen. Auch die Zusammenarbeit mit dem Hans Otto Theater funktioniert gut. Die Kinder sind neugierig, wie es so ist in einem echten Theater. Die Mitarbeiter ihrerseits nehmen die Kleinen sehr ernst. „Es ist eben nicht nur Kinderkram.“
Der professionelle Rahmen schützt natürlich nicht vor kleinen Katastrophen, wie sie immer vorkommen, wenn 780 Kinder ein Stück aufführen. „Manchmal findet jemand in der Aufregung den Ausgang nicht und dreht noch eine extra Runde auf der Bühne, aber das ist doch nicht schlimm“, sagt Erxleben. Schlimmer ist, wenn sich jemand den Fuß in der Probe bricht und nicht mehr mitmachen kann. Mit einem Gipsarm indes wurde schon getanzt. Der Arm wurde einfach in das Stück einbezogen. „Dann gab es eben ein krankes Vögelchen“, sagt Erxleben. Einmal ging der Feueralarm los, mitten in „Romeo und Julia“, und ein andermal konnte der Eiserne Vorhang gerade noch repariert werden – mit zehn Minuten Verspätung konnten man beginnen.
Wenn dann im Juli alles vorbei ist, braucht Erxleben ein paar Tage, um den Stress abzuschütteln. Auftanken kann sie bei ihrer jährlichen Studienfahrt im September, wenn sie in New York City zwei Wochen selbst Unterricht nimmt. Gedanklich ist sie da oft schon beim nächsten Projekt. In diesem Winter wird sie beim Opernprojekt der Kammerakademie mit 360 Schulkindern der Drewitzer Stadtteilschule arbeiten.
Das Konzept des Kinderballetts, das jedes Jahr Tausende Besucher anzieht, ist einzigartig in Deutschland. Manchmal wünscht sich Marita Erxleben, dass diese kontinuierliche Arbeit mehr Wertschätzung und Würdigung erfährt. Einen Preis gab es dafür in all den Jahren noch nie. „Ich weiß nicht, woran das liegt. Ich glaube, die wenigsten können sich die Größe dessen, was wir hier machen, vorstellen.“
Premiere „Lenja und der Salzkristall“ am heutigen Samstag um 11 Uhr. Weitere Aufführungen täglich bis 12. Juli. Im Vorverkauf ausverkauft, Restkarten gibt es an der Abendkasse