Geimpft und einsam: Stadt will Freiraum für Geimpfte im Heim
Potsdams Amtsärztin erteilt eine Ausnahmeerlaubnis für 100. Geburtstag einer Heimbewohnerin – und fordert Änderung bei Corona-Regeln.
Potsdam - Edith Melzer sitzt in ihrem bequemen Sessel im Pflegeheim der Residenz Heilig Geist Park, sie wird am morgigen Samstag 100 Jahre alt. Als sie lächelnd, mit hochgezogenen Augenbrauen und fester Stimme die Frage nach ihrem Geburtsort mit „Nowawes“ beantwortet, ist es, als würden drei Ausrufezeichen mitschwingen. Nowawes!!! – das ist bis heute für viele das schönere, gemütlichere, bessere Potsdam, und die alte Dame gehört sogar zu der kleiner werdenden Zahl von „echten“ Nowawesern. Sie war 17 Jahre alt, als die bis dahin eigenständige Stadt 1938 in Babelsberg umbenannt und dann, in den Augen der Alten noch schlimmer, ein Jahr später von Potsdam eingemeindet wurde.
Ausnahme für Feier mit fünf Personen zum 100. Geburtstag
Edith Melzer hat all das ertragen, hat in einer Babelsberger Bäckerei, wie sie sagt, „Knäckebrot für euch alle“ hergestellt und lebt seit ein paar Jahren in der Residenz. Geschäftsführer Hendrik Bössenrodt machte der betagten Frau, die wegen ihres nahezu faltenlosen Gesichts und ihrer wachen Augen glatt als 80-Jährige durchgehen könnte („ick wurde ja ooch jeschminkt“), ein Geburtstagsgeschenk: Er beantragte bei Kristina Böhm, der Chefin des Potsdamer Gesundheitsamts, eine Ausnahmegenehmigung für eine Feier mit fünf Personen.
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Es war der erste Antrag dieser Art, den der Corona-Krisenstab der Stadt diskutierte. Das Resultat teilte Böhm den PNN auf Anfrage mit: „Aus rein menschlichen Aspekten“ sei eine „Einzelfallentscheidung“ getroffen und die Feier erlaubt worden. Die Auflagen: Schnelltests für die Besucher, Maske, Lüften. Im Turm-Café des Heims darf die dann 100-Jährige nun am Samstag vier Verwandte mit Kaffee und Geburtstagstorte bewirten, obwohl solche Zusammenkünfte zu Corona-Zeiten nach der Eindämmungsverordnung des Landes strikt untersagt sind. Erlaubt ist derzeit nur ein Treffen von einem Haushalt und einer weiteren Person.
Kein Besuch in den Heimzimmern erlaubt
Edith Melzer freute sich außerordentlich, dass sie nach einem Jahr der Pandemie jetzt die für sie wichtigsten Menschen wiedersehen kann – gemeinsam und nicht, wie es sonst nur möglich gewesen wäre, nacheinander. Ihr Ehemann und dessen Sohn, den sie großgezogen hat, sind vor langer Zeit verstorben. Aber ihre Schwiegertochter Katharina, die in Hamburg wohnt, wird kommen, ebenso drei weitere Verwandte aus Brandenburg. „Ich freue mich so sehr“, sagt sie.
Bössenrodt hat mit der Ausnahmegenehmigung vielleicht einen Etappensieg über die Eindämmungsverordnung des Landes errungen. Er hat in dem Haus mit 120 Bewohnern und 60 Mitarbeitern ein Hygienekonzept etabliert, das in Teilen über die Vorschriften des Landes hinausging. Kernpunkt: Die größte Gefahr für ein Infektionsgeschehen gehe von Besuchern aus, die das Virus in das Heim tragen könnten. Die vier Etagen der Einrichtung waren für Angehörige außer bei der Sterbebegleitung tabu, sie treffen sich mit ihren Verwandten im Restaurant und betreten es über die Terrasse. Wohl auch deshalb blieb die Residenz von größeren Ausbrüchen verschont.
Nach der Impfung Kampf für Lockerungen
Als die Bewohner und Mitarbeiter am 3. Februar bereits zum zweiten Mal geimpft wurden und zwei Wochen später den vollen Impfschutz hatten, begann Bössenrodt seinen Kampf für Lockerungen. Doch alles blieb, wie es war. Immerhin: Bössenrodt setzte durch, was er allein verantworten konnte. Er erlaubte Angehörigen, die sich vor jedem Besuch einem Schnelltest unterziehen müssen, ihre Verwandten auf deren Zimmer zu begleiten – ohne Zeitlimit: „Angehörige hatten Tränen in den Augen, als sie das erfuhren.“
Doch das, was gerade den Senioren im betreuten Wohnen viel bedeutete, blieb verboten: Das Kartenspiel, gemeinsame Videoabende, der gepflegte Austausch in der Bibliothek. Der betont ruhige, stets sachlich argumentierende Heimchef kann sich empören: „Wir hatten seit der zweiten Impfung keinen positiven Schnelltest mehr. Wir haben in unserem Mikrokosmos seit mehr als fünf Wochen eine Inzidenz von Null. Wir sind es den Älteren doch schuldig, sie nicht nur vor Corona zu beschützen, sondern sie nun auch wieder am normalen Leben zu beteiligen.“
Es scheint Bewegung in die Thematik zu kommen. In der Potsdamer Stadtverwaltung jedenfalls sind die Verantwortlichen für Bössenrodts Vorschläge offen. Sie halte es für „absolut geboten, dass der Verordnungsgeber jetzt die Möglichkeiten für diese Begegnungen schafft“, sagte Amtsärztin Böhm auf Anfrage der PNN. Sie plädiert für Öffnungsklauseln der Eindämmungsverordnung, die Geimpften in Heimen Begegnungen untereinander erlaubt. „Unbedingt“, so Böhm, sollten die Klauseln für Heime mit einer so vorbildlichen Situation wie in der Heilig-Geist-Residenz geöffnet werden: „Es fehlt uns jede Argumentationsgrundlage, dies nicht zu ermöglichen.“ Sie setze „große Hoffnung“ darin, dass die Eindämmungsverordnung des Landes „mehr geöffnet“ werde. „Die Debatte muss endlich geführt werden”, sagte Gesundheitsbeigeordnete Brigitte Meier (SPD). Die Senioren in den Heimen hätte viele Einschränkungen erfahren: „Jetzt, wo sie geimpft sind, müssen Sozialkontakte und soziale Begegnungen wieder möglich sein.“
Carsten Holm