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Weit weg vom Kriegsalltag. Ukrainische Jugendliche lernen im Inselparadies Petzow Walzertanzen. Fähigkeiten wie diese sollen sie stark machen, den oft schrecklichen Alltag in ihrer Heimatstadt Marjinka besser zu überstehen.
© Sebastian Gabsch

Kunst gegen Kriegstraumata: Sommercamp hilft traumatisierten Jugendlichen aus der Ukraine

Ukrainische Jugendliche können nach Kriegserfahrungen in ihrer Heimat im Sommercamp in Petzow neue Kraft schöpfen.

Petzow - „Wiener Walzer!“, ruft Choreografin Iryna Polunina. Sie schaltet die Musik an und schon schweben 20 Kinder und Jugendliche im flotten Dreivierteltakt leichtfüßig durch den kleinen Raum. So unbeschwert wie an diesem Dienstagvormittag geht es in ihren Leben leider nur noch selten zu: Die jungen Ukrainer kommen fast alle aus der Stadt Marjinka, in der die Kämpfe zwischen russischen und ukrainischen Truppen nach wie vor immer wieder aufflammen. Im Inselparadies Petzow sollen die Jugendlichen beim Sommercamp „Musik rettet“, das zum Hilfsprojekt „Heart for Ukraine“ gehört, für zwei Wochen sorglose Ferien erleben.

„Wir können mit den Kindern nicht therapeutisch arbeiten, dafür ist die Zeit viel zu kurz“, sagt Projektinitiatorin Marina Bondas. „Aber wir können sie ablenken und sie moralisch stärken, indem wir ihnen künstlerische Fähigkeiten vermitteln.“ Da es dabei inzwischen nicht mehr nur um musikalische Fähigkeiten gehe, passe der Projektname eigentlich nicht mehr. Er sei aber beibehalten worden, weil er unter den Unterstützern und Teilnehmern bereits einen so hohen Bekanntheitsgrad erlangt habe.

20 Plätze pro Sommercamp

Das erste Sommercamp fand 2015 statt, seitdem agiert das Projekt unter der Obhut des gemeinnützigen Vereins Ukraine-Hilfe Berlin. Viele Künstler und Kulturschaffende engagieren sich jedes Jahr ehrenamtlich für die beiden Sommercamps, die jeweils im Juni sowie im Juli und August angeboten werden. Neben Choreografin Iryna Polunina sind in diesem Jahr unter anderen der Fotograf Ilya Mantel und der Künstler Alan Meyer dabei. Marina Bondas ist selbst Profi-Geigerin, steht bei den diesjährigen Sommercamps aber vor allem als Betreuerin und ständige Ansprechpartnerin für die Kinder und Jugendlichen zur Verfügung.

„Neulich hatten ein paar der kleineren Mädchen abends Angst, dass ein Monster in ihrem Zimmer sei“, erzählt Bondas. „Da habe ich mich zu ihnen gelegt und ein bisschen mit ihnen geredet, bevor sie eingeschlafen sind.“ Für die 38-Jährige, die 1992 aus ihrer ukrainischen Heimat nach Deutschland kam, ist es jedes Jahr erneut eine schwierige Aufgabe, die Kinder und Jugendlichen auszuwählen, die am Sommercamp teilnehmen dürfen. Mehrmals im Jahr reist Bondas in die Ukraine, um vor Ort Kontakte zu Jugendzentren und Schulen in den nach wie vor umkämpften Gebieten zu knüpfen. Von dort bekommt sie lange Namenslisten mit, auf denen oft mehrere Hundert Interessenten stehen. Pro Sommercamp gibt es allerdings nur 20 Plätze.

Komische Frage: Wie kann es einem hier nicht gefallen?

Zwischen acht und 17 Jahre sind die Teilnehmer alt, ein Teil von ihnen ist durch den Krieg zu Halb- oder Vollwaisen geworden. Künstlerische Vorerfahrung haben die wenigsten von ihnen. „Wir versuchen, eher Kinder auszuwählen, die kein künstlerisches Hobby haben, denn für sie ist es besonders wichtig, dass sie etwas an die Hand bekommen, mit dem sie sich ablenken können“, sagt Bondas. Im Malen, Fotografieren, Tanzen oder Singen sollen die Teilnehmer neue Kraftquellen für sich entdecken, um im Alltag daheim nicht den Mut zu verlieren.

Bei der 16-jährigen Katja, der 16-jährigen Rusija und der 13-jährigen Dascha scheint die Ablenkung zumindest zeitweise gut zu funktionieren. „Ich mag alles, was wir mit den Betreuern machen“, antwortet Katja ohne Zögern auf die Frage nach ihrer Lieblingsbeschäftigung im Sommercamp. Sie fühle sich hier von allen verstanden, ergänzt Dascha. Und wie es ihr im Inselparadies Petzow gefalle, erklärt Rusija kurzerhand zu einer „komischen Frage“: „Wie kann es einem hier nicht gefallen?“

„Wir setzen uns zu einer Reflektionsrunde zusammen und planen dann gemeinsam den nächsten Tag“

Ihr Tagesprogramm dürfen die Jugendlichen jeden Abend selbst mitbestimmen. „Wir setzen uns zu einer Reflektionsrunde zusammen und planen dann gemeinsam den nächsten Tag“, sagt Marina Bondas. Den demokratischen Ansatz findet sie besonders wichtig, da sie selbst die oft noch sehr autoritäre Erziehung in der Ukraine erfahren habe, wie sie erklärt. Diese sei erst seit wenigen Jahren im Wandel. „Ich merke, dass sich die Jugendlichen immer mehr trauen, für sich selbst zu sprechen.“

Um das Selbstbewusstsein der jungen Teilnehmer zu fördern, bauen die Betreuer auch mindestens einen Tag in jedes Sommercamp ein, an dem die Jugendlichen selbst die Entscheiderrolle übernehmen. Sie sind dann selbst Workshopleiter, Vortragende und betreuen einander gegenseitig. Die Betreuer hingegen setzen sich als Teilnehmer mit in die Workshops. Dieses Jahr habe eine junge Teilnehmerin einen Foto-Workshop angeboten, ein Junge und ein Mädchen hätten einen Vortrag über die Rechte von Schwulen, Lesben und Transgender in der Ukraine gehalten.

Gefördert wird das Camp jährlich von deutschen Firmen und Privatleuten, wodurch die Kosten aber oft nur knapp oder gar nicht gedeckt werden könnten, sagt Bondas. Sie hoffe, dass der Verein das Angebot noch lange beibehalten könne. „Schließlich sind es die Jugendlichen, die in ein paar Jahren wahrscheinlich ihr Land wieder aufbauen müssen.“

Spenden für das Projekt gehen an:

Ukraine Hilfe Berlin

IBAN: DE68 8306 5408 0104 8722 15

BIC: GENO DE F1 SLR

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