Kultur in Potsdam: Zwei Wege, eine Richtung
Die Potsdamerin Antje Rávic Strubel und die Afghanin Mariam Meetra bilden ein literarisches Tandem. Wie funktioniert das?
Potsdam - Zwei Frauen treffen sich in einem Café. Die eine ist zum ersten Mal hier, die andere kommt öfter vorbei. Sie reden, dann gehen sie raus, in einem Park spazieren. Unter freiem Himmel können die Gedanken besser kreisen. Sie reden über Gedichte. Sie reden über Identität und was dieses große, beladene Wort für sie bedeutet. Sie sprechen Englisch. Sie sprechen es gut, aber in der Sprache sind beide Fremde. Eine Gemeinsamkeit. Sonst haben die beiden Frauen nicht viel gemeinsam. Die Herkunft nicht, die Sprache nicht, das Alter nicht. Aber was heißt das schon? Man könnte auch sagen: Sie haben das Wichtigste gemeinsam. Sie schreiben. Die eine auf Deutsch, die andere auf Farsi.
Die eine ist Antje Rávic Strubel, geboren 1974 in Potsdam, die andere Mariam Meetra, geboren 1992 in Baghlan, Afghanistan. Die beiden bilden ein Tandem. Oder vielmehr: Sie wollen zu einem werden. Das beschriebene Treffen war die erste Runde. Im Oktober letzten Jahres war das. Initiiert hatte es die Berliner Autorin Annika Reich. Sie ist eine der Leiterinnen von „Weiter Schreiben“, einem literarischen Onlineportal für geflüchtete Autorinnen und Autoren.
„Tandem. Das sind zwei, für die es im gemeinsamen Rhythmus in dieselbe Richtung geht, den Blick nach vorn“, schreibt Antje Rávic Strubel auf der Webseite von „Weiter Schreiben“. „Und doch können die beiden auf dem langen Gespann auf ganz verschiedenen Wegen unterwegs sein.“ Autorinnen und Autoren aus Krisengebieten sollen hier ermutigt werden, wieder – oder eben weiter – zu schreiben. Für die, die in der Sprache leben, wäre Schweigen das Ende. Die so einfache wie zündende Idee von „Weiter Schreiben“ ist, dass eine Autorin von niemandem so gut ermutigt werden kann wie von einer Autorin. Daher die Tandem-Idee. Antje Rávic Strubel überzeugte das sofort. Obwohl sie bisher keine Literatur aus dem persischen Sprachraum gelesen hat, oder gerade deswegen. Das wird sich jetzt, da sie Mariam Meetra kennt, ändern.
Ein halbes Jahr nach dem Probelauf sitzt das Tandem wieder in dem Café von damals, im Babelsberger Lindencafé. Sie haben sich zwischendurch lange nicht gesehen. Antje Rávic Strubel war auf Reisen, arbeitete an einem neuen Roman. Von Mariam Meetra sind inzwischen in deutscher Übersetzung drei Gedichte auf „Weiter Schreiben“. Über eines davon hatten die beiden damals beim Spaziergang im Park lange gesprochen. „Identität“ hatte es heißen sollen. Antje Rávic Strubel erzählte Mariam Meetra von ihrer Aversion gegen große Worte, verallgemeinernde Abstraktionen. Mariam Meetra dachte darüber nach und verkleinerte das große Wort auf eine persönliche Dimension, ihre eigene. Sie nannte das Gedicht „Meine Identität“. „Sie fragen, / woher ich komme? Wo ich geboren wurde?“, heißt es darin. „Sie fragen nicht, wo ich gelitten habe?“
Jetzt soll das Tandem Fahrt aufnehmen. Morgen lesen sie das erste Mal gemeinsam öffentlich auf der Leipziger Buchmesse. Im Herbst ist ein Auftritt in Toronto geplant. „Die Idee ist auch, dass Mariam den deutschen Literaturbetrieb kennenlernt“, sagt Antje Rávic Strubel. Sie hat acht Romane geschrieben, Essays, bissig-analytische „Gebrauchsanweisungen“ für Brandenburg, Schweden, den Schnee. Gedichte schreibt sie nicht. Kein Hindernis, sagt sie, denn: „Ich bin zwar Prosaautorin, aber ich bin auch Leserin. Zu dem Treffen mit Mariam kam ich ausgerüstet mit meiner Lyrikleseerfahrung.“ Was schon eher ein Hindernis ist, das sagen beide, ist die Sprache, diese Sprache, in der sie sich begegnen können, aber keine von ihnen zu Hause ist. Antje Rávic Strubel hat in den USA gelebt, übersetzt aus dem Englischen, soeben ist ein neues von ihr übersetztes Buch von Joan Didion erschienen. Dennoch: „Wenn man präzise verstehen will, was die andere meint, kann die fremde Sprache ein Hindernis sein“, sagt Antje Rávic Strubel. „Deswegen ist es so wichtig, erst einmal zu verstehen, welchen Kontext die Bilder und Worte der anderen mitbringen. Bevor man in die Tiefe eines Textes gehen kann, braucht es ein Gefühl für die Schwingungen der Worte.“ Trotzdem mag sie es als erfahrene Übersetzerin, sich in einer anderen Sprache zu bewegen. „So sehe ich von außen, wie ich meine eigene Sprache verwende. Es ist ein Experiment. Und macht Spaß.“
Fun – das ist das Jonglieren zwischen drei Sprachen für Mariam Meetra eher nicht. Dafür ist es zu existenziell. Und es ist harte Arbeit. Seit einem Jahr lernt sie Deutsch, jeden Tag sechs Stunden. Dennoch glaubt sie, dass es Jahre dauern wird, bis sie irgendwann mal auf Deutsch schreiben können wird. Und sie will kein Alltagsdeutsch, keine Einkaufslisten, sie will es richtig lernen. Mit der Sprache leben, das ist ihr Ziel. Noch aber denkt sie in Englisch, fühlt in Farsi. „Ich übe das, über meine Arbeit in einer anderen Sprache zu reden. Aber ich fühle mich manchmal damit ziemlich unwohl.“
Was könnte eine Autorin einsamer machen als das Gefühl, nicht über die richtigen Worte zu verfügen? In dem Gedicht „Abschiedsbrief“ schreibt Mariam Meetra: „Bevor ich meine Einsamkeit in Koffer packte / und in diese Stadt mitbrachte, / war das Leben nicht eine unbehauste / namenlose Frau.“ Es endet: „Diese Stadt ist eine kleine Herberge, / die so viel Einsamkeit nicht erträgt.“
Mariam Meetra lebt seit Januar 2015 in Berlin. An den Moment, als sie sich entschied, Afghanistan und ihren Beruf als Journalistin hinter sich zu lassen, kann sie sich nicht erinnern. Es war ein langer Prozess, eine nicht enden wollende Reihe an Alltagsschikanen, die ihr als arbeitender Frau, als Journalistin, begegneten. Sie war vier, als die Taliban Kabul eroberten, Frauen aus dem öffentlichen Raum verbannten. Der Text, in dem sie davon erzählt, erschien 2016 im Tagesspiegel. Mariam Meetra war eine der Exil-Journalistinnen, die die Sonderausgabe „#jetztschreibenwir“ mitgestalteten. Damals schrieb sie: „In Afghanistan müssen wir um Rechte kämpfen, die in vielen Teilen der Welt für selbstverständlich gelten. Wir müssen unser Leben riskieren für das Recht zu lernen, zu arbeiten, frei über unser Leben zu entscheiden.“
Manchmal kommt es ihr vor, als sei ihr damaliges Leben in eine nicht mehr zu fassende Ferne gerückt. „Als käme ich vom fernsten Punkt der Erde“, heißt es in einem Gedicht, „als würden meine Erinnerungen weitab, unerreichbar / anderswo vergessen.“
Das Zurückliegende nicht dem Vergessen schenken – das ist eine der Aufgaben, die sich Antje Rávic Strubel und Mariam Meetra vorgenommen haben. Beide haben etwas zurücklassen müssen, das nur noch in der Erinnerung existiert. „Sich eine neue Gesellschaft zu erschließen, sich in fremde politische und kulturelle Bedeutungszusammenhänge hineinzuwursteln, das haben wir in gewisser Hinsicht gemeinsam“, sagt Antje Rávic Strubel. Für sie kam die Zäsur 1989, das Alte hieß DDR. Über diese Gemeinsamkeit sprechen die beiden an diesem Tag im Lindencafé zum ersten Mal. „Ja“, sagt Mariam Meetra, „aber die Sprache blieb doch dieselbe.“ – „Stimmt, allerdings musste ich selbst das Lesen einer Zeitung neu lernen.“
Tschechow, Tolstoi, Ingeborg Bachmann – es gibt andere Berührungspunkte zwischen den beiden. Bei genauem Hinsehen fächern sich oft Nuancen von Unterschieden auf. Die Sache mit dem Feminismus zum Beispiel. Beide sind Feministinnen, keine Frage. Was aber ist das wichtigste feministische Anliegen? Antje Rávic Strubel ist schnell bei Equal Pay. Mariam Meetra geht es darum, erst einmal ernst genommen zu werden. In Afghanistan, sagt sie, hält man Feminismus für eine Modeerscheinung. Ein Label, eine Eintagsfliege. Darüber können beide herzlich lachen.
Antje Rávic Strubel und Mariam Meetra sind morgen um 19 Uhr im Rahmen der Leipziger Buchmesse bei „Leipzig liest" im Kulturbüro, Mariannenstraße 101, zu Gast
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