Deutschland zwischen Ost und West: Zurück auf der Schaukel
Der Politologe Robert Meyer ruft in seinem Buch alte – und doch aktuelle – geopolitische Modelle in Erinnerung. Eine Rezension
Denken in Räumen. Denken in Einflusszonen. Denken in geopolitischen Kategorien. All dies schien in der Welt der Entgrenzung durch Globalisierung und Digitalisierung überholt. Doch dann kehrte eben dieses Denken unter Wladimir Putin zurück. Wie sehr davon auch das Handeln geprägt ist, zeigte spätestens die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und die militärische Intervention in der Ostukraine. Umso wichtiger ist nun das Erscheinen eines Werkes zu geopolitischem Denken und entsprechenden Europamodellen. Der Bonner Politologe Robert Meyer hat lange vor der Ukrainekrise ein sehr gutes Gespür für ein Thema gehabt, das zu Beginn seiner Untersuchungen in Europa noch nicht einmal im wissenschaftlichen Fokus stand, politisch wie medial ohnehin nicht, um nun mit Gewalt – im wahrsten Sinne des Wortes – zurückzukehren.
Die Geschichte war nicht an ihr Ende gelangt
Meyer erinnert an eine frühere Renaissance von geopolitischem Denken. Es waren die Jahre der „Wende“ in Europa. Vor nunmehr einem Vierteljahrhundert wurde eine „Revolution der Staatenwelt“ ausgerufen, in zeitlicher Hinsicht als „Zeitenwende“ bezeichnet, in räumlicher Perspektive als „Raumrevolution“ charakterisiert. Denn war der Ost-West-Gegensatz noch durch ein relativ statisches, gleichsam eingefrorenes Raumbild gekennzeichnet, erlebte mit dem Fall des Eisernen Vorhangs in Europa ein Denken in Kategorien von Kraftlinien und Machtprojektionen eine Renaissance. Die Geschichte war nicht an ihr Ende gelangt. Sie begann vielmehr von Neuem – und damit auch die Suche nach Antworten auf alte Fragen.
Eine dieser erneut aufgeworfenen Fragen war die nach der außenpolitischen Orientierung Deutschlands angesichts der Umwälzungen der Jahre 1989 bis 1991. Meyer erkennt hier strukturelle Gemeinsamkeiten mit der Debatte zwischen Atlantikern und Gaullisten in den 60er Jahren: Vor allem deutschen geopolitischen Denkern ging es darum, den auswärtigen Kurs und das nationale Interesse der Bundesrepublik neu zu bewerten. Sie begründeten dies nicht zuletzt mit der durch die Einheit wiederhergestellte Mittellage Deutschlands.
Auch bei den strategischen Antworten auf die Ordnungsproblematik nach dem Ende des Kalten Krieges sieht Meyer eine Analogie zur alten Auseinandersetzung zwischen Atlantikern und Gaullisten. Erneut ging es um Anlehnung oder Gegenmachtbildung. Hier unterscheidet Meyer die Protagonisten in eine maritim-atlantische und eine kontinental-europäische Kategorie, wobei Letztere zusätzlich in eine kontinental-eurasische Dimension zerfalle, in der Russland ein größerer Stellenwert beigemessen werde. Davon ausgehend macht er drei geopolitische Europamodelle aus: neben dem atlantischen ein kontinentales Europa und schließlich ein eurasisches unter Einbeziehung Russlands. Innerhalb dieser Modelle bewegen sich nach Meyers Analyse die strategischen Grundmuster der Anlehnung oder der Gegenmachtbildung, die entweder kooperativ oder antagonistisch aufgefasst werden.
Zwei konträre geopolitische Europamodelle
Hält man Meyers Studie vor den Spiegel der deutschen und europäischen Debatte über das Verhältnis zur Ukraine und zu Russland, wird auf den ersten Blick deutlich, wie aktuell die von ihm beschriebenen Denkschulen sind. Und auch eine weitere Konstante ist zu beobachten, die bei Meyer bereits in den Debatten der 60er und 90er Jahre aufscheint: Entscheidend für die äußere Ausrichtung Europas waren und sind die USA, deren spiegelbildliche Bewertung zwei konträre geopolitische Europamodelle hervorbringt: ein atlantisch ausgerichtetes und ein kontinental orientiertes – beide bezugnehmend auf die amerikanische Machtfülle, das eine sich daran anlehnend, das andere sich davon unter deutsch-französischer Führung emanzipieren wollend durch eine Strategie der Gegenmachtbildung.
Hier kam bereits ab 1989 Russland erneut ins Spiel. Meyers Schilderungen der damaligen Debatten lesen sich, als stammten sie aus der Hochkonjunktur deutsch-russischer Beziehungen bis unmittelbar vor der Ukrainekrise. Da ging es um Forderungen zur Schaffung eines eurasischen Großraums oder der Bildung einer strategischen Partnerschaft. In einer weiteren Spielart beschränkte man sich nicht mehr auf eine enge Abstimmung zwischen Deutschland und Frankreich, sondern sah in der Etablierung einer Achse Paris-Berlin-Moskau die notwendige Voraussetzung für eine effektive Gegenmachtbildung. Und nicht zuletzt: die bis heute beliebte Variante eines dritten Wegs zwischen Ost und West, ein Modell von Europa, das die Mittellage des Kontinents betont und eine Festlegung zugunsten der westlichen oder der östlichen Flügelmacht vermeidet. Stattdessen wird eine Schaukelpolitik postuliert, die je nach machtpolitischer und machtökonomischer Interessenlage darüber entscheidet, mit wem eine Kooperation nützlich erscheint. Bei Meyer kann man nachlesen, wie alt die neuen Debatten zum Verhältnis von Europa zu Russland und den USA sind.
– Robert Meyer: Europa zwischen Land und Meer. Geopolitisches Denken und geopolitische Europamodelle nach der „Raumrevolution“. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014. 416 Seiten, 54,99 Euro.