"Jahrhundertschritt" im Museums Barberini in Potsdam: Zerrissen, um zu verbinden
Mit Wolfgang Mattheuers „Jahrhundertschritt“ ist das erste Werk aus der Sammlung Hasso Plattners ins Museum Barberini gezogen. Oder eigentlich davor. Ein symbolträchtiger Akt.
Potsdam - Es zerreißt ihn in alle Richtungen. Die Brust aufgeborsten. Der linke Arm nach hinten zur Arbeiterfaust geballt, der rechte zum Hitlergruß nach vorne gereckt. Der Kopf eingesaugt zwischen den Schultern, eigentlich ein Kopfloser: Der „Jahrhundertschritt“ von Wolfgang Mattheuer ist die Skulptur eines Menschen, mit dem man, so brutal er wirkt, Mitleid hat. Und dann erschrickt. Weil er ja für den deutschen Horror des 20. Jahrhunderts steht und auch für den Widerstreit politischer Systeme. Die aber halten ihn nicht auf: Über die Analogien der Arme hinweg schreitet er mit riesigem Schritt nach vorne – und seit dem gestrigen Donnerstag fast in die Havel.
Das Museum Barberini hat die Skulptur – als erstes Werk seiner künftigen Sammlung überhaupt – mitten in den Durchgang gestellt. Dorthin, wo einst eine Straße durch das Palais führte, die – noch so ein Schritt – das politische Potsdam am Alten Markt mit dem lauschigen an der Havel verband.
Eine Offenheit, die Spannung schafft
Das soll auch künftig so sein, sagt Ortrud Westheider, Direktorin des von Software-Milliardär Hasso Plattner gestifteten Museums Barberini am Donnerstag. „So lange das Museum geöffnet ist, sollen die Menschen hier hindurchgehen können.“ Stehen bleiben, sich austauschen, debattieren. „Für diese Offenheit steht auch diese Skulptur“, sagt Ortrud Westheider. Eine Offenheit, die zugleich geladen ist, die Spannung schafft. „Es ist auch eine ganz brüchige Figur“, so Westheider. Mattheuers „Jahrhundertschritt“ geht den Potsdamern quasi voraus.
Wobei er am Donnerstag einen etwas anderen Weg nahm – nicht durch das Foyer des Barberini hindurch, sondern über dessen Dach hinweg. Per Kran wurde die fünf Meter hohe Version – nebenbei gesagt die monumentalste von insgesamt sechs Varianten der Mattheuerschen Skulptur – an ihren neuen Platz gehievt. In den vergangenen Monaten war sie saniert worden. Hasso Plattner hatte sie bereits 2012 vom Frankfurter Galeristen Karl Schwind gekauft und damit seine so umfangreiche Sammlung ostdeutscher Kunst der vergangenen 60 Jahre ergänzt. Schon damals hatte er sie kurz in Potsdam gezeigt – allerdings im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte am Neuen Markt. Jetzt soll nicht nur der „Jahrhundertschritt“, sondern auch Plattners Sammlung ostdeutscher Kunst im Barberini ein dauerhaftes Zuhause bekommen. Zu ihr gehören neben Werken von Mattheuer auch solche von Bernhard Heisig, Werner Tübke, Arno Rink und Willi Sitte. Die bereits geplante dritte Ausstellung im Barberini, Ende nächsten Jahres, wird sich ihnen widmen.
Der wuchtige "Jahrhunderschritt" im Freien, weitere Werke von Mattheuer im eigenen Raum
Dem Leipziger Maler und Bildhauer Wolfgang Mattheuer, der in der DDR für viele Debatten sorgte, soll im Museum ein eigener Raum gewidmet werden, sagt Ortrud Westheider. Sein „Jahrhundertschritt“ aber steht mit all seiner Wucht am besten im Freien. Die Arbeit, die übrigens als eine der bekanntesten Skulpturen der DDR–Kunst gilt, war auch für Mattheuer ein großer Schritt ins Freie: Drei Jahre nach der ersten Präsentation des Werks vor den SED-Kulturfunktionären im Jahr 1985 – „Da hat er uns wieder mal einen ordentlichen Sprengsatz untergeschoben“, soll einer gemurmelt haben – trat Mattheuer, bis dahin ein privilegierter Künstler, mit einem offenen Brief aus der SED aus.
Dass seine monumentale Arbeit jetzt im kleinen Potsdam und nicht etwa vor dem Berliner Reichstag steht, ist – klar – Hasso Plattner, aber auch dem Kunstbeirat des Parlaments zu verdanken. Im Reichstagsgebäude ist Mattheuer mit zwei Gemälden vertreten, Nachlassverwalter Karl Schwind hatte 2009 versucht, den „Jahrhundertschritt“ auf dem Areal davor zu platzieren, wurde aber abgewiesen. Zu monumental für den Platz, urteilte damals Andreas Kernbach, Kurator der Kunstsammlung des Bundestags.
Preußischer Barock oder sozialistische Moderne: Was ist erhaltenswert?
Und natürlich passt der Riese mit seinen vielen Häuten – glatt auf der rechten vorderen, rau und porös auf der linken Seite – in seiner ganzen Gespaltenheit, seiner irren Spannung sowieso viel besser nach Potsdam. Dieser Stadt, die zwar nicht mehr so sehr zwischen den Systemen des 20. Jahrhunderts zerrissen ist, die aber so sehr um die Erinnerungen an bestimmte Epochen ringt. Hier geht es heute eher die Frage, was erhaltenswert, ist: preußischer Barock oder sozialistische Moderne.
Und jeder Betrachter wird weitere Widersprüche in sich finden, die ihn aus dem „Jahrhundertschritt“ anschreien. So ist das mit großer Kunst, die funktioniert in nahezu allen Kontexten.
Das Museum Barberini eröffnet am 23. Januar 2017 mit einer Impressionistenausstellung. Mehr dazu erfahren Sie hier >>
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