Buch zur NSA-Affäre: Wie die NSA zur digitalen Überwachungsmacht wurde
Für die Mitglieder des NSA-Untersuchungsausschusses, der sich heute konstituiert, ist es eine Pflichtlektüre. Marcel Rosenbach und Holger Stark liefern eine Anklageschrift zur NSA-Affäre und zeichnen den Weg in die "totale Überwachung" nach.
Es ist 1996 und das ZDF erklärt das Internet. In einem Youtube-Video sieht man, wie im Morgenmagazin ein junger Redakteur in einem etwas zu breit geratenen Sakko erläutert, was eine E-Mail ist und von den „bunten Bildern“ im World Wide Web spricht. Auf die Frage des Moderators, ob er einen Internetzugang brauche, antwortet ihm der junge „Fachmann“: „Diese Entscheidung möchte ich dir nicht abnehmen.“ Gerade so, als sei das Netz eine Gewissensentscheidung.
Und ohne, dass er das damals habe wissen können, dürfte der junge Mann recht gehabt haben. Denn im Juni desselben Jahres erkannte auf der anderen Seite des Atlantiks der amerikanische Geheimdienst NSA sehr viel früher als andere Behörden, Geheimdienste oder Programmplaner, welche Möglichkeiten das Netz bietet – und gab sich ein neues Ziel. Eines, das heute längst erreicht, sogar überholt ist. „Eine Informationsrevolution fegt durch die Welt, die so radikale Veränderungen erzwingt wie einst die Entwicklung der Atombombe. So wie die Kontrolle der industriellen Technologie einst der Schlüssel zu militärischer und ökonomischer Macht während der vergangenen zwei Jahrhunderte war, wird die Kontrolle der Informationstechnologie der Schlüssel zur Macht im 21. Jahrhundert“, schrieb NSA-Direktor Kenneth Minihan in einer Mitteilung an alle Mitarbeiter und formuliert den Anspruch der NSA: die „informationelle Vorherrschaft für Amerika“ zu erreichen.
16 Jahre später gilt dieser Anspruch immer noch und die NSA hat alles dafür getan, ihm gerecht zu werden. Das beschreiben die beiden „Spiegel“-Redakteure Marcel Rosenbach und Holger Stark in ihrem Buch und erläutern, wie folgerichtig alle Programme von Tempora über Prism bis Mystic in diesem Kontext sind. Rosenbach und Stark haben für den „Spiegel“ Einblick in die Dokumente des Ex-Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden erhalten und berichten seit Monaten darüber. Ihr Buch ist einerseits Gesamtschau und Überblickswerk zur NSA-Affäre und Pflichtlektüre für die Mitglieder des NSA-Untersuchungsausschusses, der sich heute konstituiert. Es ist aber auch Anklageschrift und eine moderne Version von George Orwells „1984“, nur mit dem Unterschied, dass es dokumentarisch, appellativ und weniger belletristisch ist.
Wie die NSA und GCHQ zur digitalen Überwachungsmacht wurden
Was Rosenbach und Stark dokumentieren ist zudem keine Zukunftsvision, sondern Gegenwart und Retrospektive. Sie beschreiben die Macht der Metadaten, durch die sich nicht nur nachvollziehen lässt, was eine bestimmte Person gerade macht und wo sie ist, sondern die den Geheimdienst auch in die Lage versetzt, Prognosen aufzustellen. Vor allem rekonstruieren die beiden Autoren kenntnisreich den Weg der NSA und auch des britischen Partners GCHQ zur digitalen Überwachungsmacht.
Wie aktuell der 1996 erstmals artikulierte Anspruch noch ist, belegen sie mit einer Selbstdarstellung der beiden Dienste aus einem Snowden-Dokument, datiert auf das Jahr 2012: Dort heißt es, die NSA wolle das „Internet besitzen“. Und die GCHQ begründet ihr massenhaftes und ausgeklügeltes Anzapfen der weltweiten Glasfaserkabel, durch die die digitalen Datenströme fließen, damit, dass sie „das Internet beherrschen“ wollen. Die Ereignisse um den 11. September 2001 spielen dabei eine wichtige Rolle. Noch heute werden sie als Begründung für die Politik der totalen Überwachung durch die NSA herangezogen – dabei ist 9/11, und das zeigen die Autoren, nur eine Art Beschleuniger gewesen. Juristische Schranken, die vor den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon sogar von der NSA-Spitze gewünscht waren und auf die die Verantwortlichen ihre Mitarbeiter auch hingewiesen haben, fielen anschließend weg.
Snowden, der libertäre digitale Freiheitskämpfer
Natürlich widmen sich Rosenbach und Stark auch Snowden. Er wird in ihrem Buch als digitaler Freiheitskämpfer beschrieben, der diesen Weltmachtsanspruch, die Praktiken und Vorgehensweisen der NSA nicht länger ertragen habe. Ein Libertärer, der sich vom Saulus (als Geheimdienstmitarbeiter) zum Paulus (als vielleicht größter Whistleblower aller Zeiten) gewandelt habe. Ein Mann, der seine bürgerliche Existenz aufgegeben und der Welt eine „überfällige Debatte aufgezwungen“ habe.
Doch, und das ist eine Schwäche des Buches, die angesichts der Umstände auch schwer zu umgehen ist, sie kommen Snowden und seinen Beweggründen nicht wirklich näher. Zwar entwerfen sie ein klares Bild von ihm, zeichnen seinen Werdegang nach, haben auch mehrfach mit ihm gesprochen, doch die Erklärungen dafür, dass Snowden einen solchen Schritt wagt und seine Sichtweise derart radikal verändert, wirken unvollständig. Vor allem Snowdens Zeit als CIA-Mitarbeiter in Genf soll maßgeblich für seine Entscheidung gewesen sein, weil er dort mitbekommen habe, mit welchen Macho-Allüren einer seiner Chefs aufgetreten ist, wie ein Schweizer Banker unter Druck gesetzt wurde, damit er als Quelle fungiert, und wie renitent seine Vorgesetzten gegenüber seinen Anmerkungen zur eigenen IT-Sicherheit waren. Alles nicht schön, aber Grund genug, sich für ein Leben in ständiger Gefahr zu entscheiden?
Im Kern ist es kein Buch über Snowden. Rosenbach und Stark liefern auch keine neuen Hinweise auf Material, das die NSA beispielsweise in Deutschland abgefischt hat, oder auf die Quellen, die angezapft wurden, um Berichte über Angela Merkel anzufertigen. Es geht den Autoren vielmehr um die Systematik – und auch um das Zusammenspiel der Dienste und um das ungleiche Machtverhältnis zwischen NSA und BND.
Das Bild der totalen Überwachung und den Konsequenzen resultiert nicht allein aus den technischen Möglichkeiten, die es gibt und die mannigfaltig genutzt werden, sondern auch aus der fatalen Mischung von digitaler Überlegenheit und politisch-juristischem Versagen. Das Buch mündet in einen Aufruf zur „digitalen Selbstverteidigung“ und der Forderung nach einem „Cyberwaffensperrvertrag“ und einer stärkeren Bürgerrechts-Lobby. Es ist keine Abrechnung mit dem Internet – aber eine mit denen, die es von staatlicher Seite missbrauchen und denen, die das zulassen.
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– Marcel Rosenbach, Holger Stark: Der NSA Komplex. Edward Snowden und der Weg in die totale Überwachung. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2014. 384 Seiten, 19,99 Euro.
Christian Tretbar