Thomas Webers Hitler-Buch: Wie Adolf Hitler zum Nazi wurde
Der Historiker Thomas Weber versucht in seinem neuen Buch zu klären, wie Adolf Hitler zum Nazi wurde. Eine Rezension.
Die Hitler-Exegese folgt seit Jahrzehnten einer Art von Konjunkturkurve. Mal wird sein außergewöhnliches Charisma betont, dann wieder ist er der prototypische „Mann ohne Eigenschaften“. Thomas Weber, in Aberdeen lehrender Historiker des Jahrgangs 1974, nannte vor gut drei Jahren in einem durchaus provokanten Zeitungsaufsatz vier Fragen, die die Forschung noch nicht beantwortet habe.
Erste und wichtigste: „Wie können wir die rapide Metamorphose der politischen Überzeugungen und der Persönlichkeit Hitlers innerhalb nur eines Jahres nach dem Ende des Ersten Weltkriegs von einem Einzelgänger ohne Führungseigenschaften und mit wechselnden politischen Einstellungen zu einem faschistischen charismatischen Leithammel mit einem Alles-oder- nichts-Totalitarismus … erklären?“
Hitler hatte sich freiwillig zum bayerischen Heer gemeldet
Wie Weber die Frage zu beantworten gedachte, hatte er bereits mit seinem ersten Buch von 2011, „Hitlers erster Krieg. Der Gefreite Hitler im Weltkrieg – Mythos und Wahrheit“, angedeutet: Durch die minutiöse Auswertung von Regimentsarchiven belegte er, „dass Hitler weder ein Held noch ein Feigling“ war, weder der von diesem selbst später unaufhörlich behauptete ,Frontkämpfer’ noch das bloße ,Etappenschwein’ am Rockzipfel der Offiziere. Was jedoch Hitler selbst später über seinen Kriegseinsatz verbreitete, war durchweg frei erfunden.
Nun legt Weber sein zweites Buch vor, das chronologisch unmittelbar anschließt: „Wie Adolf Hitler zum Nazi wurde. Vom unpolitischen Soldaten zum Autor von ,Mein Kampf’“. Man ist erstaunt, wie viel es zu erfahren gibt über diesen unbedeutenden Gefreiten, der so lange als nur irgend möglich beim Militär bleibt, weil er sonst nichts hat: Als Österreicher, man muss es erinnern, hatte sich Hitler freiwillig zum bayerischen Heer gemeldet. Nun saß er 1919 in München und suchte sich nützlich zu machen, um der Demobilisierung vorerst zu entgehen.
Und da passiert nun – etwas ganz anderes, als die bisherige Literatur nahelegt. In München bricht die Revolution aus, die Räterepublik ist da – und Hitler? Er lässt sich zum „Vertrauensmann“ des Regiments wählen, wird also ein kleines Rädchen im Getriebe der Räterepublik. Er gilt den Kameraden als Sozialdemokrat, wie Weber aus der fast vergessenen, doch so ungemein hellsichtigen Biografie des emigrierten Journalisten Konrad Heiden von 1936 zitiert. Es ist die erste Führungsposition in Hitlers Leben.
Der blutige Sturz der Räterepublik zwingt Hitler, sich von ihr zu distanzieren – allein, um seine Haut zu retten.
Die Räterepublik, die so gerne als Ur-Erlebnis Hitlers für die Entwicklung seiner Rassenideologie genommen wird, spielte darin tatsächlich keine erkennbare Rolle. Noch Joachim Fest hatte in seiner Hitler-Biografie von 1973 über das verschreckte Bürgertum als Rezipienten völkischen Gedankenguts geschrieben: „Diese alte Angst sah sich nicht nur durch die revolutionären Erscheinungen im eigenen Lande aktualisiert, sondern vor allem durch die russische Oktoberrevolution und die von ihr ausgehende Drohung. Die Schrecken des Roten Terrors, vielfach dämonisiert und vor allem von den in München zusammenströmenden Flüchtlingen und Emigranten zu Schlachtfesten eines blutrünstigen Barbarentums aufgebauscht, beherrschten leidenschaftlich die nationale Phantasie.“
„Andere hatten Freunde, eine Frau, einen Beruf; er hatte nur die Massen, zu denen er sprechen konnte“
Hitler hingegen wird aufgestört durch ein ganz anderes Ereignis: die Ratifizierung des Versailler Vertrags durch den Reichstag am 9. Juli 1919. Weber nennt „die verspätete Erkenntnis der deutschen Niederlage sein eigentliches Damaskuserlebnis“. Zu dieser Zeit belegte Hitler einen Propagandakurs des Militärs, und es ist erstaunlich, wie die damals in wenigen Vorträgen gehörten Ansichten über Volkswirtschaft, Ressourcenknappheit bis hin zur „Zinsknechtschaft“ Hitlers Denken für immer bestimmen sollten. Zwar war die politische Richtung dieser für die Umerziehung der Bevölkerung gedachten Rednerschulung „antibolschewistisch“. Doch es war der Antikapitalismus, der Hitlers „latenten Antisemitismus“ zum Vorschein brachte. Im August 1920 hielt Hitler vor 2000 begeisterten Zuhörern im Hofbräuhaus eine Rede, die eine weitere Radikalisierung markierte, mit dem Thema „Warum sind wir Antisemiten?“ Darin „kombinierte Hitler … einen antikapitalistischen Antisemitismus mit einem rassischen Antisemitismus“ und warnt, der „internationale jüdische Kapitalismus“ sei dabei, „Deutschland und den Rest der Welt zu zerstören“. Hitler wird zum Berufspolitiker, das heißt zum Berufsredner. Erneut zitiert Weber Heiden: „Andere hatten Freunde, eine Frau, einen Beruf; er hatte nur die Massen, zu denen er sprechen konnte.“
Nicht, dass Weber psychologisierte; doch die Einbettung der Ideologiebildung in die Lebensumstände des Einzelgängers Hitler vermag die Leerstellen in der Genese der Hitler’schen Gedankenwelt zumindest zu erhellen. Dabei bleibt ein Fixpunkt. „Die Erkenntnis der deutschen Niederlage war das A und O seiner Metamorphose“, betont Weber immer wieder. Das ist so neu allerdings nicht; erst im vergangenen Jahr hatte Wolfram Pyta in seiner Studie „Hitler. Der Künstler als Politiker und Feldherr“ geschrieben, es gebe „gute Gründe für die Annahme, dass Hitlers Politisierung vom Versailler Vertrag ihren Ausgang nahm“. Hitler, so nun wieder Weber, suchte Antwort auf seine beiden Grundfragen, wie zum einen die Niederlage Deutschlands im Weltkrieg geschehen konnte und wie zum anderen ein Deutschland beschaffen sein müsste, das in einer rapide sich wandelnden Welt unbesiegbar sein würde.
Es kommt zu manchen Wandlungen. Hochinteressant ist „Hitlers Schwenk nach Osten“: „Spätestens ab Mitte 1920 begann Hitler in Russland einen natürlichen Verbündeten Deutschlands gegen die anglo-amerikanische Welt zu sehen.“ So predigte Hitler, „wir müssen Anschluss suchen an das nationale, antisemitische Russland. Nicht an den Sowjet, … dort herrscht der Jude“. Weber schlussfolgert, es sei sein Ziel noch nicht gewesen, „,Lebensraum’ zu gewinnen und den Osten zu kolonisieren, sondern gemeinsame Sache mit Russland zu machen“. Alfred Rosenberg, der nach der Russischen Revolution geflüchtete Baltendeutsche, tritt in Hitlers Leben, der eine Verbindung zieht zwischen angeblich jüdischem Bolschewismus und jüdischem Finanzkapitalismus. Doch die Hoffnung auf den Zusammenbruch der jungen Sowjetunion nach Lenins Tod Anfang 1924 geht nicht auf.
Davor liegt der Hitler-Ludendorff- Putsch vom 9. November 1923, den Weber als eine von Anfang bis Ende dilettantische Aktion schildert; mit der Schlusspointe, dass Hitler anschließend nach Österreich zu fliehen versucht, „doch kurz vor den Alpen blieb der Wagen liegen, ein Umstand, der welthistorische Folgen haben sollte“. Stattdessen kommt Hitler vor Gericht, wird verurteilt und schreibt in der – höchst komfortablen – Haft 1924 den ersten Band von „Mein Kampf“, den zweiten 1925 nach der Entlassung. Weber widmet dieser Zeit das Schlusskapitel, das bereits ein Ausblick ist auf die Folgezeit: Hitler „hatte in Ruhe über seine politischen Ziele nachdenken können … Dabei veränderten sich seine Ideen ganz zentral. Darin liegt die eigentliche Bedeutung von ,Mein Kampf’“.
Zwei dieser „Ideen“ tauchen erstmals in Hitlers Denken auf
Damit ist zugleich auf die Edition verwiesen, die das Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ) von „Mein Kampf“ erarbeitet hat und die, erstaunlich genug, trotz ihres gewaltigen Umfangs die Spitze der Sachbuch-Bestsellerliste erklommen hat (Selbstverlag 2016). In der Einleitung stellt das Bearbeiter-Team um Christian Hartmann erneut die Frage, die die NS- Historiografie seit jeher umtreibt: „Wie weit ließ ,Mein Kampf’ bereits erkennen, was nur wenige Jahre später, während der Jahre 1933 bis 1945, folgen sollte? War dieses Buch tatsächlich schon die Ankündigung der großen Katastrophe?“ Immerhin hat die Programmschrift die „vier Ideen, auf denen Hitlers Weltanschauung basierte“, zum Ausdruck gebracht: „die Idee der Rasse, die Idee des Raums, die Idee der Gewalt und schließlich die Idee der Diktatur“.
Zwei dieser „Ideen“, belegt Weber, tauchen erstmals in Hitlers Denken auf und ersetzen ältere Gedanken: „die Theorie vom ,Lebensraum’ und einen Rassismus im Sinne der Theorie von Hans F. K. Günther“, dessen Buch „Rassenkunde des deutschen Volkes“ von 1922 Hitler zunächst nicht gelesen hatte, dann aber intensiv studierte. „Es lässt sich nicht mit absoluter Sicherheit sagen“, Weber stößt an die Grenzen der Quellenforschung, „wo das neuerwachte Interesse an Rassenkunde herkommt.“ Die Verbindung der Ideen von „Lebensraum“ und „Rasse“ führte dann geradewegs zum Ziel der Eroberung des Ostens – als Antwort auf die Kernfrage seines politischen Denkens seit 1918, „wie das Sicherheitsdilemma Deutschlands gelöst werden kann“.
Hier mündet Webers erhellende Darstellung der politischen Entwicklung Hitlers in die Hauptlinien der bisherigen Biografik ein. Mit der Veröffentlichung von „Mein Kampf“ besaß Hitler eine ausgeformte „Weltanschauung“ – und eine präsentable Selbsterzählung. Weber zwar ist „erstaunt, wie radikal Hitler in ,Mein Kampf’ über sein Leben log. Das Buch ist weitgehend fiktiv“. Doch das spielte fortan keine Rolle mehr. Hitlers Aufstieg zur Macht war gezeichnet.
– Thomas Weber: Wie Adolf Hitler zum Nazi wurde. Vom unpolitischen Soldaten zum Autor von „Mein Kampf“. Propyläen Verlag, Berlin 2016. 528 Seiten, 26 Euro.
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