zum Hauptinhalt
Geschichten des Leidens. In ihrem neuen Stück „Flucht nach vorn“ bringt das Jugendtheater des HOT die Erzählungen von Geflüchteten auf die Bühne. Die Premiere heute Abend ist ausverkauft. In der kommenden Spielzeit, im März 2017, werden ebenfalls in Potsdam lebende Flüchtlinge zum Sujet des Theaters – in dem Stück „Gehen und Bleiben“ von Maxi Obexer.
© HL Böhme

Kultur: „Was, ihr macht noch was mit Flüchtlingen?“

Der Willkommenskultur-Hype ist vorbei: Das Hans Otto Theater aber beweist den unzeitgemäßen Mut, nicht davon abzulassen

Draußen ist es warm, Frühling. Drinnen soll er besungen werden. In der Reithalle A des Hans Otto Theaters sind Tische aufgebaut, in kleinen Grüppchen sitzen Schwarzafrikaner und junge Syrer nebeneinander. Hier und da auch Potsdamer. Hinten ein Buffet. Vorne auf der Bühne die Schauspieler Michael Schrodt und Rita Feldmeider, auf drei großen Pappschildern der Text: „Es tönen die Lieder...“ Bevor es losgehen kann, muss noch schnell übersetzt werden. Tja, was hieß noch mal Schalmei auf Englisch? Egal. Tra la-la-la-la-la-la-la!

Die meisten derer, die an diesem Mai-Nachmittag in der Reithalle A zum „Refugees’ Club“ zusammenkommen, sind erst kurze Zeit in Deutschland. Später trägt ein junger Syrer einen selbst geschriebenen Rapsong vor, ein bosnischer Jugendlicher versetzt die Syrer mit Bauchtanz in verwirrtes Entzücken. Noch später schaukeln Potsdamer und Geflüchtete zusammen zu arabischer Musik, die kleinen Finger ineinander verhakt. Der „Refugees’ Club“ ist eine monatliche Mischung aus Kaffeekranz und Kulturvermittlung, improvisiert, auch ungelenk, sympathisch.

Und er ist viel mehr als das. Der „Refugees’ Club“ zeigt, dass das Theater Position beziehen will. Er ist Teil einer breit angelegten Offensive des Theaters zur Unterstützung dessen, was man im Herbst 2015 „Willkommenskultur“ nannte. Das Wort wird in den Medien inzwischen seltener genannt. Der Hype ist vorbei. Mit einer Reihe von Initiativen zeigt das Theater jedoch, dass es im guten Sinne unzeitgemäß sein will. Dass es an besagter Kultur festhält.

2015 kamen 1494 Flüchtlinge nach Potsdam, fast viermal so viele wie im Vorjahr. Eine Situation, auf die das Theater offenbar überlegt reagieren wollte, nach außen wirkte es: behäbig. Als im September der „Refugees welcome“-Hype einen Höhepunkt erreichte, als Theater in Hamburg und Berlin sogar Notunterkünfte für Flüchtlinge in ihren Häusern einrichteten, blieb es in Potsdam ruhig. Nach außen hin. Drinnen muss es gebrodelt haben. Viele im Ensemble engagierten sich, als Bürger. Fuhren privat in die Flüchtlingsunterkünfte, organisierten Dinge, die dort gebraucht wurden. Und nach dem Sommer bekam die Dramaturgie Verstärkung von einem, der viel Erfahrung damit hat, soziale Realitäten und Theateralltag kurzzuschließen. Christopher Hanf war bereits unter Tobias Wellemeyers Intendanz in Magdeburg für die überregional sehr gelobte soziokulturelle Dimension zuständig. Die neue Energie am HOT scheint ihm zu verdanken zu sein.

Am Tag nach dem „Refugees’ Club“ steht Christopher Hanf abends in der Reithalle. Ein Gespräch mit dem Politikurgestein Wolfgang Thierse und der jungen Sozialwissenschaftlerin Esra Küçük. Als Auftakt zitiert Hanf einen ihm kürzlich hingeworfenen Kommentar: „Was, ihr macht noch was mit Flüchtlingen? Das ist doch total out.“ Der Saal schien im recht zu geben: Nur etwa 40 Menschen wollten Thierse und Küçük über das Thema „Und die Sorgen der besorgten Bürger?“ reden hören. Hanf aber verteidigte die Linie des Theaters trocken, selbstverständlich: Es richte sich nicht nach Hypes und Klicks. Die Diskussion war der letzte Teil der Gesprächsreihe „Welches Land wollen wir sein?“. Sie war vom Theater als intellektuelles Pendant zum lebensnahen „Refugees’ Club“ gedacht. Seit November 2015 diskutierten hier prominente Künstler und Wissenschaftler mit Potsdamer Bürgern. Oder sollten es tun. Denn wie Hanf selbst zugibt, funktionierte der Austausch nicht immer. Zu oft war man sich einfach zu einig: Flüchtlinge willkommen! Die, die das anders sehen, kamen selten. Der gesuchte Dialog wurde monologisch.

Nachhaltiger als Podiumsdiskussionen ist derzeit ohnehin, was das Theater im Verborgenen treibt. Also ohne in erster Linie aufs Publikum zu zielen. Wie der Mittwochsworkshop von den Ensemblemitgliedern Nina Gummich und Axel Sichrovsky und der Choreografin Anja Kozik. „Seit dem Sommer wollte ich mich unbedingt irgendwie einbringen, wusste aber nicht wie“, sagt Nina Gummich. „Und als die Dramaturgie dann fragte, wer sich vorstellen könnte, Workshops mit Flüchtlingen zu machen, waren Axel und ich die Schnellsten.“ Mit drei aus Syrien Geflüchteten improvisieren sie seit Januar einmal pro Woche. Zehn bis 15 syrische Männer – und eine kaukasische Frau. Nach dem prägendsten Erlebnis gefragt, erzählt Nina Gummich von dem Workshop, als sie die Geflüchteten fragten, ob sie sich Deutschland denn anders vorgestellt hätten. Ein Workshop, in dem es Tränen gab. Auf allen Seiten.

Eine andere, die lange im Verborgenen arbeitete, ist die Theaterpädagogin Manuela Gerlach. Zusammen mit Veronika Zimmer und 27 Jugendlichen aus Deutschland, Syrien, Afghanistan, Gambia und Mauretanien hat sie seit Januar ein Stück erarbeitet. Titel: „Flucht nach vorn“, Premiere ist am heutigen Donnerstag. Woher kommen die nach Potsdam Geflüchteten, wohin soll es gehen? Das ist das Thema. Es war das Wunschthema der Potsdamer Jugendclub-Mitglieder. „Sie sind unglaublich entsetzt über die Unmenschlichkeit in der Flüchtlingskrise und wollen für etwas anderes kämpfen. Auch wenn sie gar nicht wissen, wie das aussehen soll“, sagt Manuela Gerlach. Elf Sprachen wurden auf den Proben gesprochen. „Flucht nach vorn“: Das ist die Blickrichtung. Das Stück wird die schlimmen Geschichten der Geflüchteten erzählen. Theater heilt nicht, aber es öffnet, das haben die Leiterinnen oft erlebt. Auch für die deutschen Jugendlichen war der Probenprozess ein Bewusstwerdungsprozess: Wo bin ich in der Flüchtlingsdebatte? Will ich da sein?

Den „Refugees’ Club“ wird es in der neuen Spielzeit weiter geben, im Rahmen des Programms „Stadt der Zukunft“. Zudem soll die Autorin Maxi Obexer im Auftrag des Theaters zusammen mit dem dokumentartheatererprobten Regisseur Clemens Bechtel („Staatssicherheiten“) Potsdamer Flüchtlingsgeschichten festhalten. Beim „Refugees’ Club“ im Mai warben die beiden bereits um Mitwirkende: Kürzlich erst Geflüchtete sollen ebenso zu Wort kommen wie Potsdamer, die mit Flucht in Berührung gekommen sind. Das Ergebnis wird im März 2017 unter dem Titel „Gehen und Bleiben“ auf die Bühne gebracht. Zunächst aber findet am 9. Juni die Premiere von „Illegale Helfer“ statt – jenes Stück von Maxi Obexer, dem die AfD den aufmerksamkeitstechnisch großen Gefallen getan hat, es absetzen zu wollen. Die Theatermaschine scheint ins Rollen gekommen zu sein.

Zur Startseite