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Lustig wirds. Vor allem dann, wenn bildungsbürgerlicher Eifer alle Zivilisiertheit frisst. Wie, zeigen Philipp Mauritz, Bernd Geiling und Jon-Kaare Koppe in „Kunst“.
© HL Böhme

Kultur: Warum Kunst?

Heute Abend hat Yasmina Rezas Stück „Kunst“ am Hans Otto Theater Premiere. Was macht die Autorin so erfolgreich? Und: Warum überhaupt solche Stücke – in Zeiten wie diesen?

Angenommen, Yasmina Reza wäre nicht die meistgespielte Theaterautorin unserer Zeit. Angenommen, irgendjemand hätte noch nicht von ihr gehört und man müsste diesem Jemand in einem Satz zeigen, worum es in den Stücken dieser Bestsellerin so geht. Welcher Satz wäre das? Versuchen wir es mit diesem: „Zum Glück gibt es immer noch die Kunst des zivilisierten Umgangs miteinander!“

Wenn der Jemand dann enttäuscht reagierte, würde man ausholen und ihm erklären: Dieser Stoßseufzer steht am Beginn des Stückes „Der Gott des Gemetzels“. Es ist eines der erfolgreichsten Stücke von Yasmina Reza – geboren 1959 in Paris –, was sich auch daran zeigt, dass Roman Polanski es 2011 mit Jodie Foster und Cate Winslet verfilmt hat. Der zitierte Seufzer entfleucht Véronique, der Mutter eines Jungen, dem kürzlich von einem anderen Jungen zwei Zähne ausgeschlagen wurden. Woraufhin der Vater des Schlägers, der zusammen mit seiner Frau zum Versöhnungselternbesuch angetreten ist, zurückschlawenzelt: „... die die Jungs ja offenbar nicht beherrschen.“ Die Kunst des zivilisierten Umgangs eben.

Möglicherweise wäre besagter Jemand, der Yasmina Reza nicht kennt, von diesen Ausführungen nicht besonders beeindruckt und fände das alles etwas kompliziert. Das Wichtigste aber hätte er wohl begriffen: Die Eltern umtänzeln einander unter Mithilfe aller Kniffe der Konversationskunst, während die Kinder sich auf dem Schulhof weiter prügeln. Der Stückverlauf von „Gott des Gemetzels“ zeigt, dass man auch sagen könnte: Während die Eltern sich prügeln, gehen die Kinder weiter zur Schule. Ein Kreislauf. Die Kinder prügeln sich, weil sich die Eltern prügeln, weil sich die Kinder prügeln. Das ist der Witz in dem zitierten Reza-Satz. Die Kunst des zivilisierten Umgangs heißt so, weil sie eben das ist: künstlich. Natürlich ist die Gewalt, die darunter liegt.

Es ist bei Yasmina Reza immer nur eine Frage der Zeit, bis sich eine ziemlich unzivilisierte Aggression unter der Kultiviertheit der Figuren Bahn bricht. Erst wird geredet und getrunken, dann gebrüllt, Krawatten verrutschen, es wird auch mal gekotzt, und dann vielleicht vorm Vollrausch von „Negern“ gefaselt. Und das Ganze so, dass das Theaterpublikum zwischen hysterischem Selbsterkennungs-Gelächter und beschämter Schockstarre gar nicht weiß, wohin.

Rezas Texte sind Gesellschaftskomödien, die sich an ein ganz bestimmtes Milieu richten: jenes im Publikum der Stadt- und Staatstheater – und jenes Milieu, zu dem die Stadt- und Staatstheaterbesucher gerne gehören würden, wie der Kritiker Tobi Müller beobachtete. Obere Mittelschicht und Bildungsbürgertum also. Rezas Figuren sind Journalisten, Ärzte, Anwälte. Tobi Müller behauptet, dass sich ein großer Anteil von Rezas Erfolg durch die Schadenfreude erklärt, die die Klein- und Durchschnittsbürger im Publikum empfinden, wenn die Besserverdienenden auf der Bühne sich gegenseitig auf die Hemden kotzen, ihre Kinder nicht im Zaum haben, teure Bildbände mit teurem Whisky versauen: Weil ihnen so bewusst wird, dass es auch dort, wo sie eigentlich vielleicht hinwollen, nicht besser ist.

Meist sind die auf der Bühne so eloquent, dass sie selbst nicht merken, wie angeknackst sie sind. Ihr Geplauder perlt ohne Unterlass. Sie reden sich ihr Dasein herbei. Reza selbst sagt über ihre Figuren: „Sie sind am stärksten anwesend, wenn sie schweigen. Die Worte sind für mich im Grunde nichts als ausgeklammertes Schweigen.“ Ob das Gewicht dieses Schweigens tatsächlich spürbar wird, liegt an der jeweiligen Inszenierung, am Talent der beteiligten Schauspieler. An ihnen liegt es auch, zu bestimmen, ob Rezas Stücke in den Boulevard abgleiten, ob die Dialoge einfach flutschen, ohne dass die Brüche dazwischen sichtbar würden, ob die Figuren karikiert werden, ohne dass das Publikum sich – oder seine sozialen Sehnsüchte – darin erkennt und ihm das Lachen (das es bei Reza geben muss) auch im Hals stecken bleibt.

Bei Kritikern wird jede Reza-Premiere argwöhnisch betastet: Boulevard, ja oder nein? Tobias Wellemeyer, der Intendant des Hans Otto Theaters, der hier 2012 bereits Rezas „Drei Mal Leben“ inszenierte, bringt am heutigen Samstagabend Yasmina Rezas wohl größten Erfolg, das Stück „Kunst“, auf die Bühne. Uraufgeführt 1996, kürzlich war es in Potsdam auch in einer Inszenierung des Poetenpacks zu sehen. Es gehört zu Rezas ungefährlicheren Stücken. Es geht um drei Männer aus oben beschriebenem Milieu. Einer von ihnen (Serge) hat sich ein Bild gekauft, und dafür 200 000 Franc hingeblättert. Weil er es eben kann, und weil er, wie sein Freund Marc ihm vorwirft, jemand sein will. Jemand, der Kunst kauft und Kunst kennt. Das Bild ist fast komplett weiß. Marc nennt es „Scheiße“. So beginnt „Kunst“, und es ist kein Zufall, dass die Anführungsstriche zum Titel gehören. Im Stück geht es um Kunst, die vorgibt, eine zu sein. Es geht auch darum, was Freundschaft ausmacht, und darum, wie wir gesehen werden wollen. Wie wir uns sehen. Im Grunde: Es geht um Luxusprobleme. Das aber unterhaltsam.

Angesichts des Anspruchs, mit seinem Theater der Gegenwart ins Auge zu sehen, muss Tobias Wellemeyer sich also schon fragen lassen: Warum „Kunst“, warum jetzt? Die heutige Premiere wird es, vielleicht, zeigen. Es sagt viel über unsere Gegenwart aus, dass sich diese Frage im November 2015 wie eine grundsätzliche liest: Warum Kunst, warum jetzt? Gibt es nicht viel Wichtigeres? Der Theaterbesucher stecke derzeit im Dilemma, schrieb die Journalistin Christine Lemke-Matwey kürzlich angesichts der Präsenz von Flüchtlingen, die sich ihr auf dem Weg ins Hamburger Theater aufdrängte. Nach den Attentaten vom 13. November potenziert sich die Dringlichkeit ihrer Fragen: „Was soll der Theaterbesucher tun? Wieder nach Hause gehen?“

Wohl kaum. Wohin also mit uns, dem wohligen Mittelstand und seinen Problemchen, angesichts dessen, was da draußen passiert? Das Theater unserer Tage sei bestenfalls ein Transitraum, sagt Lemke-Matwey, ein Ort des vorübergehenden Aufenthalts. Viel ist das nicht. Aber warum nicht in diesem Transitraum verschnaufen. Und bestenfalls kommt man dabei ein bisschen zum Nachdenken darüber, was wir eigentlich von dem wollen, das man uns da auf der Bühne serviert. Auch darum geht es, nebenbei gesagt, in „Kunst“.

„Kunst“ in der Regie von Tobias Wellemeyer hat am heutigen Samstag um 19.30 Uhr im Hans Otto Theater, Schiffbauergasse, Premiere. Weitere Vorstellungen am 28. und 29. November.

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