Fontane-Biografie: Von Ehebruch und Depression
Der Potsdamer Autor Hans-Dieter Rutsch schrieb die Fontane-Biografie „Der Wanderer“.
Potsdam - Fontane besuchen auf dem Friedhof der Französisch-Reformierten Gemeinde in der Berliner Liesenstraße? Fehlanzeige. Den Verehrern des Dichters war es lange Zeit weitgehend verwehrt, ihn mit einer Blume zu ehren. Die Mauer, den die DDR-Oberen 1961 durch Berlin zogen, machte einen Besuch unmöglich. Der Friedhof war Grenzgebiet. Seit 29 Jahren ist er nun wieder frei begehbar. Für den Dichter, der ja selbst gern Friedhöfe besuchte und über sie schrieb, waren sie wie aufgeschlagene Geschichtsbücher.
„Was wir von der brandenburgisch-preußischen Geschichte wissen, verdanken wir sehr viel Fontane. In seinen ,Wanderungen durch die Mark Brandenburg’, in Romanen wie ,Vor dem Sturm’ oder ‚Der Stechlin’ hat er uns mit den Menschen vertraut gemacht, die dieses Land prägten und von ihm geprägt worden sind“, sagt der Potsdamer Filmemacher und Buchautor Hans-Dieter Rutsch.
So manchen Ort hat er aufgesucht, der für Fontane wichtig war: in Berlin oder in der Mark Brandenburg. Natürlich auch Friedhöfe. Und immer wieder hat Rutsch sich in den vergangenen Jahren in Fontane und seine Texte vertieft. Er stellte fest, dass sie für ihn neben den künstlerischen Ereignissen, die ihn begeisterten, stets ein großer Erkenntnisgewinn in Sachen Geschichte mit sich brachten. Dies gehörte für den Dramaturgen, Autor und Regisseur zu den notwendigen Vorarbeiten des anstehenden Buchprojekts über Fontane und erforderte seine volle Konzentration.
Nun erschien rechtzeitig vor dem Jubiläum 2019 im November bei Rowohlt die Biografie: „Der Wanderer – Das Leben des Theodor Fontane“. Sie ist nicht das Ergebnis eines werkvergrabenen Wissenschaftlers oder das im arroganten Brustton eines Besserwissenden sich äußernden Zeitgenossen. Es ist ein Buch entstanden, das sich neugierig dem wechselvollen Dasein des Menschen Fontane nähert. Rutsch wollte den Dichter und seine Zeit, die Menschen um ihn herum verstehen und sie nicht in eine Schublade stecken.
„Fontane war mir schon als Kind ein Begriff“, erzählt Hans-Dieter Rutsch. „Meine Großmutter war regelrecht eine Fontane-Närrin. Sie verschlang seine Frauenromane.“ Da die Bücher in der Wohnung griffbereit waren, näherte auch er sich langsam dem Dichter. Als 14-Jähriger suchte er vor allem enge Beziehungen zu Effi Briest. „Ich habe zwar nicht alles verstanden, doch ich war verliebt in die junge Frau, die so unglücklich verheiratet war und wegen einer Jahre zurückliegenden unbedeutenden Affäre in ein noch größeres Unglück gestürzt wurde.“ In Rutschs Jugend war vor allem der amerikanische Kultroman „Der Fänger im Roggen“ von J.D. Salinger aktuell, doch Hans-Dieter Rutschs Resümee ist eindeutig: „Fontane hat bei mir seinen wichtigen Platz ununterbrochen behalten, in Herz und Sinn.“ Dem geistreichen, hoch gebildeten und menschlich warmherzigen Dichter des 19. Jahrhunderts hat er sich 2016 wieder mit Intensität zugewandt, als er vom Rowohlt Verlag den Auftrag erhielt, eine Fontane-Biografie zu verfassen. Als Buchautor hat sich Rutsch längst einen Namen gemacht, aber zunächst ist er als Filmemacher in der Öffentlichkeit bekannt geworden. Beides, Film und Buch, sind dem heute 64-Jährigen unentbehrlich.
Zu DDR-Zeiten war Rutsch beim Defa-Studio für Dokumentarfilme tätig. Nach der politischen Wende konnte er endlich seine eigenen Filmvorhaben verwirklichen. Er gründete 1995 die Havel Film Babelsberg. Mehr als 50 Dokumentationen, Features und Reportagen entstanden hier, vor allem zu Themen Ostdeutschlands und Osteuropas. In ihnen unternimmt er Wanderungen und Fahrten auf den vielfältigen Wegen der Geschichte. Der Sohn einer vertriebenen Familie, dessen Vorfahren aus Schlesien beziehungsweise Ostpreußen kommen, hat in Flucht und Vertreibung sein künstlerisches und persönliches Interesse gefunden. 2014 strahlte die ARD seinen Film „Polen und seine Deutschen“ aus, zwei Jahre später „Die Schneekoppe“. Auch das Schreiben von Büchern, zu dem ihn sein Verlag immer wieder ermuntert, gehört zu Hans-Dieter Rutschs großem Anliegen. 2012 erschien bei Rowohlt „Die letzten Deutschen. Schicksale aus Schlesien und Ostpreußen“, zwei Jahre später im selben Verlag „Das Preußische Arkadien. Schlesien und die Deutschen“.
Einen Film über Fontane plant er noch nicht. Doch sein Buch „Der Wanderer“ lässt den Leser an die Lebenswanderung des Dichters teilnehmen, der vor 200 Jahren, am 30. Dezember 1819, in Neuruppin geboren wurde. Nach 79 Jahren, am 20. September 1898, ging sein Leben in Berlin zu Ende. Hans-Dieter Rutsch begibt sich in Fontanes Geburtsstadt, beobachtet auch das Heute und fragt sich, warum man sich dort dem berühmt gewordenen Apothekersohn so lieblos zuwendet. An seinem Geburtshaus geht die Neugier für den Dichter und Menschen leer aus, so Rutsch. Bekannt macht der Autor mit Fontanes Eltern und dem Großvater. Dabei wird nicht das romantisierende Bild, das Fontane von seinem Vater, dem Apotheker Louis Henry, und seiner Mutter Emilie in „Meine Kindheit“ zeichnet, verfolgt. Rutsch hinterfragt kritisch, warum Vater Fontane zum Trinker wurde und immer wieder knapp bei Kasse war. Die Depression der Mutter wird beleuchtet und die neurologischen Versuche, sie zu bekämpfen.
Auf Effi Briest und anderen Ehebruchsgeschichten geht Rutsch ein, auf die darauffolgenden Duelle der Kontrahenten, auch über die fast hysterische „Schreibwerkstatt“ im Hause Fontane. Das Biografische wird immer wieder unterbrochen, weil Rutsch einen Ausflug in die Geschichte und Geschichten unternimmt, die alle informativ sind und neue Aspekte des Biografischen bereithält. Zum Finale gibt es noch einmal Spannung. Der Autor erzählt von den Wirren um den schriftstellerischen Nachlass des Dichters in der Zeit des Nationalsozialismus und nach 1945 in beiden deutschen Staaten. Nach der Wende zog Ruhe ein. Heute ist der Hauptaufbewahrungsort in Potsdam: rund 20.000 Blatt Originalhandschriften lagern im Fontane-Archiv.
» Hans-Dieter Rutsch: „Der Wanderer. Das Leben des Theodor Fontane“. Verlag rowohlt Berlin, 331 Seiten, 26 Euro.