Tanztage in Potsdam: Verstörend anmutig
Politisches Finale: Über 7500 begeisterte Zuschauer bei den diesjährigen Potsdamer Tanztagen
Potsdam - Mit dröhnenden Maschinengeräuschen, saftig zersplitternden Melonen und stakkatoartiger Ball-Jonglage überraschten die Potsdamer Tanztage an ihrem letzten Abend. Nach fast zwei Wochen mit stark kontrastreichem Programm, beginnend mit dem hochenergetischem Amateurtänzerinnen-Prolog „Le Grand Continental" im Lustgarten, feierten sie am Samstagabend bei tropischem Klima ihr Finale mit acht sehr unterschiedlichen Veranstaltungen zwischen Waschhaus-Arena, fabrik und T-Werk.
Den Abschlussabend eröffnete die Deutschlandpremiere von „Con Grazia“ von Martin Messier und Anne Theriault aus Montreal, die in ihrer von elektronischen Klängen und mechanischen Robotern getriebenen Performance lustvoll verstörend diverse Objekte zertrümmerten. Mit Gummi-, Holz- oder Zimmermannshämmern bewaffnet, schlugen sie anfangs auf ballgroße Glaskugeln oder rote Weihnachtskugeln, später auf reife Äpfel, Paprika und Melonen ein.
Die dabei live erzeugten Geräusche übertrugen sich in die elektronische Partitur von Martin Messier, die die vorwiegend im Zwielicht stattfindende Objekt-Choreografie organisierte und steuerte. Der kanadische Komponist und Videokünstler versucht in seinen Performances mit Alltagsgegenständen und erfundenen Maschinen diesen das Wort zu erteilen und die hierarchische Beziehung zwischen Musik und Choreografie umzukehren – damit der Klang zur treibenden Kraft der Gesten wird. Sound soll auf diese Weise, so Messier, mehr als nur Unterstützung der Inszenierung sein, er kann selbst inszeniert werden.
In „Con Grazia“ gelingt dies auf manchmal alptraumhaft verstörende Weise – wie in der Sequenz, als die Performer mit Baseballschlägern roh klatschend auf Quader und Würfel einschlagen. Oder wenig später in einer live gefilmten Videosequenz lustvoll brutal eine reife Tomate penetrieren. Mit dem stumpfen Ende des Zimmermannshammers. Den beiden Porzellantassen, einem Sahnekännchen und der Zuckerdose geschieht indes kein Leid. Das wertvolle Geschirr vollführt, gelenkt von den gleichförmig mechanischen Bewegungen von vier Roboterarmen, einen klirrend graziösen, fast klassisch anmutenden Tanz.
Reine menschliche Handarbeit war dagegen die Abschlussaufführung des letzten Festival-Abends „Humanoptere“ von Clément Dazin aus Straßburg. Doch auch hier jonglieren die sechs sehr unterschiedlichen Männer anfangs zu mechanisch vorwärtstreibenden Maschinenklängen. Was direkte Auswirkungen auf ihre jahrtausendealte elegante Bewegungskunst hat. Besonders eindrücklich zu spüren in der Szene, als die sechs, jeder in einem Lichtquadrat wie an einem Schreibtisch sitzend, im Takt der enervierenden Tonspur stakkatoartig ihre kleinen weißen Bälle kurz kreisen und dann im gleichen Takt abrupt und sehr hart auf den Boden fallen lassen.
Die berühmten Maschinen-Szenen aus Chaplins Film „Moderne Zeiten“ kamen einem da sofort in den Sinn. Dazin hat, bevor er sich ganz der Jonglage widmete, einen Master in Management absolviert und er zieht in „Humanoptere“ (deutsch: Menschenopfer) durchaus diese Parallelen zur modernen Arbeitswelt. In der der Einzelne oft ungemein waghalsig jonglieren muss, um für sich und gegen die Anderen im Team zu bestehen. Wer versagt, wird – auch in Dazins Inszenierung – gnadenlos aussortiert.
Doch ist dieses ewige „Schneller, Höher, Weiter“ überhaupt noch menschen- und zeitgemäß? In einer modernen Welt, in der die natürlichen Ressourcen erschreckend schnell zur Neige gehen und immer mehr Menschen in den hochgradig spezialisierten Arbeitsgesellschaften im psychischen Burnout enden. Dazin zeigt in seiner lange nachwirkenden Inszenierung, die mit ihrer erneuerten Art des Jonglierens in einer Choreografie und dem Bezug auf die Arbeitswelt ganz neue Ausdrucksfelder für Jonglage eröffnet, auch Alternativen.
Seine Männer, die freiwillig und ungemein kreativ in ihrer Gruppe zusammenwirken, besitzen nicht nur eine sehr unterschiedlich ausgeprägte Rückenmuskulatur, sondern auch sehr individuelle artistische Fähigkeiten, die sie auch einzeln im Scheinwerferlicht blitzlichtartig präsentieren dürfen. Dazin zeigt, wie es schon Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest“ deklarierten, dass die Freiheit des Einzelnen die Voraussetzung für die Freiheit aller ist. Wunderbar, wie sich selbstständige Individuen, die ihren eigenen Impulsen folgen und offen füreinander sind, in einer selbstgewählten Gruppe gegenseitig ergänzen und einander verstärken können.
Wie gut, dass die Macher der Potsdamer Tanztage bei den eingeladenen Inszenierungen immer wieder einen gesellschaftspolitischen Bezug suchen und sich gerade dieses Festival nicht an „reiner“ Kunst abarbeitet. Über 7500 zumeist begeisterte Besucher waren 2018 der Lohn dafür. Astrid Priebs-Tröger
Astrid Priebs-Tröger
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