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Tellkamp
© dpa

Schriftsteller im Interview: Uwe Tellkamp: "Vielleicht bin ich ein giftiger Lurch"

Zur Buchmesse: Der Schriftsteller Uwe Tellkamp im Interview mit dem Tagesspiegel über das DDR-Bürgertum, den Arztberuf und sein Problem mit der Ironie.

Herr Tellkamp, als Sie 2004 in Klagenfurt den Ingeborg-Bachmannpreis gewannen, verbeugten Sie sich und rissen zackig einen Arm mit geschlossener Faust in die Höhe.

Ich weiß, dass war missverständlich, auch mit dem Janker, den ich trug, ich hatte nur nichts anderes. Aber das war Erleichterung, das war ein Fußballtor. Den möchte ich sehen, der eins schießt und sich nicht so freut! Manchmal glaube ich, ich bin ein bisschen wie Fluor.

Fluor? Dem chemischen Element?

Ja. Mit Fluor kann es nur heftige oder gar keine Reaktionen geben. Abstoßung, Anziehung, alles heftig. Vielleicht bin ich ja ein giftiger Lurch.

Sie sind mit Ihrem tausendseitigen Roman „Der Turm“ über eine bürgerliche Nischengesellschaft in der DDR und den Niedergang der DDR in der engeren Auswahl für den Deutschen Buchpreis. Haben Sie für einen eventuellen Sieg eine Pose eingeübt?

Nein, ich rechne da mit nichts. Ich bin froh, dass ich auf der Shortlist stehe, das ist toll. Aber ich bin genauso froh, dass es das Buch überhaupt gibt – das war lange gar nicht so klar. Vor einem Jahr hatte ich mit meiner Frau ernsthafte Gespräche darüber, dass es nie erscheinen würde. Für mich wäre es zu diesem Zeitpunkt schon das Größte gewesen, zu wissen: Der Roman wird gedruckt und liegt bei mir mit einem Exemplar auf dem Küchentisch.

Sie spielen auf Ihren Verlagswechsel von Rowohlt Berlin zu Suhrkamp an.

Ja. Es gab für das Buch gewissermaßen zwei Lektorate. Bei Rowohlt Berlin hatte es noch gar nicht begonnen, dort stand das ganze Buch zur Debatte. Nicht in sich, aber vom Umfang her. Reicht nicht die Hälfte, wurde ich gefragt? Ich hatte das Gefühl, mir selbst gegenüber nicht mehr loyal sein zu können, wenn solche Fragen so massiv gestellt werden.

Musste das Buch denn so einen Umfang bekommen?

Ein gesellschaftliches Panorama muss sich entfalten können, will es überzeugend wirken. Die verschiedenen Milieus brauchen Raum zur Entfaltung. Diesen Anspruch können Sie jetzt als übertrieben bezeichnen, oder pathetisch – geschenkt. Die Figuren müssen sich entwickeln können, sonst bleiben sie Pappkameraden. Ich wollte keine Genossen, die nur Fieslinge oder Dummköpfe sind, und keine schönen Helden, die es in Wirklichkeit ja nicht gibt. Das braucht Platz.

Den der neue Verlag Ihnen gewährt hat.

Das hatte ich nicht erwartet. Es ging vor allem um Verständnisfragen. Zum Beispiel, als eine meiner Hauptfiguren, Meno Rhode, in das fiktive Viertel Ostrom kommt und von einem Oberstleutnant gefragt wird: „Zu wem möchten Sie?“ Die Lektorin sagte, das sei psychologisch unwahrscheinlich, so einer fragt doch: „Zu wem wollen Sie?“ Doch es gab nunmal Formen der Macht in der DDR, die sich erlaubten, so höflich zu sein. Da rührt einer ganz ruhig in einer Tasse Tee und fragt: „Zu wem möchten Sie?“ Das waren die Gefährlichsten. Ich musste Sachen wie das Warten auf Anrufe in fremden Wohnungen erklären, das Fahren mit Schwarztaxis usw. Am Ende hatte ich mehr Kürzungsvorschläge als das Lektorat. Es sind mehrere Stränge aus dem Roman herausgefallen.

Trotzdem fällt das Opulente Ihres Romans auf, sein Adjektivreichtum, die vielen literarischen Anspielungen.

Das musste sein. Die DDR, die ich beschreibe, das kleine hochbürgerliche Viertel in Dresden und seine Menschen – das ist wie ein Dornröschenland, das von hundertjährigen Rosen überwuchert wird. Diese vielen Ornamente, diese Detailverliebtheit, diese Besessenheit, das sind meine Rosen, die über den Text wuchern.

Sie feiern diese Bürgerlichkeit auch.

Ja, von mir aus. Und beobachten. Feiern und kritisch beobachten. Wer Dresden kennt, weiß: Diese Stadt liebt Deutungshoheiten. Sie hält sich für die schönste Stadt der Welt, Elbflorenz halt. Kein Dresdener aus dieser Schicht wollte was von den schlechten sanitären Verhältnissen wissen. Oder von den vielen Nazis in der Stadt. Das kratzt zu sehr am Lack des schönen Canaletto-Bildes. Klar, ich liebe diese Stadt. Und ich liebe meine Figuren. Aber das macht mich nicht blind für andere Wahrnehmungen.

Sie stammen selbst aus dem Bürgertum, das Sie so eindringlich beschreiben.

Mein Vater war Arzt. Aber wir wohnten zunächst in einem Plattenbau, bevor wir dank einer bestechlichen Mitarbeiterin der Kommunalen Wohnverwaltung in das Villenviertel an den Elbhängen ziehen konnten, den Weißen Hirsch. Auch ich durfte da manchmal zu einem meiner Verwandten in die Wohnung kommen und fünf Schallplatten anhören. Fünf mal „Tannhäuser“, fünf verschiedene Einspielungen, und diese dann auseinandernehmen: Das ist gut, oder? Was fehlt dort? Das ist belastend, ich wollte ja auch Fußball spielen. Andererseits ist es schön, dass es so wichtig genommen wurde. Dieser pädagogische Eros! Und du bist derjenige, dem das alles vermittelt wird.

Sie haben die Ambivalenz von rückwärtsgewandter Sehnsucht und Morbidität als „süße Krankheit Gestern“ beschrieben.

Die Stadt ist vergangenheitsselig, gerade weil sie einmal so schön war. Nur kommt die Vergangenheit nicht wieder. Mich trieb beim Schreiben auch die Frage um, warum es diese Rückwärtsgewandtheit gibt. Für mich ist das eine Flucht aus den obwaltenden Umständen, die Bedrückungen durch den Staat: Man zog sich zurück in diesen Wachspalast aus Zeit und fror dort fest, die Elbe kreiste herum, lagerte ihren Totenwachs in den Zimmern ein und die Eisblumen krochen darüber.

Und bei Ihnen? Sehnen Sie sich manchmal nach Ihrer bürgerlichen Jugend zurück?

Die Intensität, mit der sich meine Eltern und Verwandten um mich gekümmert haben, war eine schöne Erfahrung. Doch es gab es auch eine beklemmende Ähnlichkeit zwischen der Pädagogik der offiziellen Gesellschaft, die Abweichungen streng bestraft hat, und dieser scheinbar idyllischen Gegenwelt, in der ich aufwuchs, zwischen der offiziellen sozialistischen Tugendgesellschaft und der inoffiziellen Tugendgesellschaft dieses merkwürdig verkapselten DDR-Bürgertums. Jäger und Gejagte wurden sich ähnlich, das Gefühl hatte ich schon damals, als der Lebensbruch mit der Armee stattfand.

Sie verpflichteten sich für drei Jahre, weil Sie Medizin studieren wollten und wurden NVA-Panzerkommandant. Gab es da womöglich ein Gefühl von Macht?

Nein. Es war das Gefühl einer absurden Groteske.

Wegen sogenannter „politischer Diversantentätigkeit“ mussten Sie ins Gefängnis. Was war geschehen?

Zunächst ging es nur um Bücher, die ich nicht lesen durfte, eine Hesse-Biografie von Hugo Ball, Gedichte von Bukowski und Wolf Biermann, die ich mir in ein Büchlein geschrieben hatte. Entscheidender aber war, dass ich bei einer Demonstration Anfang Oktober 1989 in Dresden den Befehl verweigert hatte. Ich wusste von meinen Eltern, dass mein Bruder unter den Demonstranten war, und als die Kaserne ausrücken sollte, habe ich gesagt, ich komme nicht mit. Das Medizinstudium konnte ich mir abschminken.

Ein paar Tage später fiel die Mauer. Sie begannen, in Leipzig Medizin zu studieren und wurden Assistenzarzt in der Unfallchirurgie. War die Medizin eine Berufung?

Ich wollte schon in der DDR nichts tun, bei dem man ideologisch angreifbar ist. Ich wollte einen Beruf, in dem man mit Menschen umgeht und das Faktische trotzdem anwesend ist. Und ich komme nunmal aus einer Arztfamilie. Diese Erziehung zur Genauigkeit, die fand ich hier wieder. Ein Nerv ist ein Nerv. Da lässt sich nicht lange herumdiskutieren.

Mit dem Schreiben begannen Sie schon früher, und zwar am 16. Oktober 1985, ein Gedicht. Woher wissen Sie das so genau?

Das wird mir oft angekreidet, weil ich in Interviews noch den Tag beschrieben habe: ein schöner Herbsttag, die Sonne schien auf eine Rose usw. Ich habe damals dieses rabenschlechte Gedicht geschrieben, mit einem Datum versehen und meinem Onkel geschenkt. Und der hat es mir irgendwann wieder gezeigt.

Lässt sich der Beruf als Arzt mit dem Schreiben verbinden?

Seit dem Bachmannpreis arbeite ich nicht mehr als Arzt. Damals ging es darum, die Facharztausbildung zu machen. In der Unfallchirurgie wäre das mehr als ein Fulltime-Job geworden.

Bereuen Sie das manchmal?

Da gibt es nur Entweder oder. Ich habe davor lange nicht geschrieben, höchstens Tagebuch. Aber keine Befindlichkeiten, sondern Eindrücke, Fakten: Wie sitzt man in der Histologie und mikroskopiert. Oder wohin fährt welche Straßenbahn in Leipzig?

Auf der Leipziger Buchmesse 2005 sagten Sie, als Arzt in einer Notfallambulanz verginge einem die Lust auf Witzchen und Ironie. Sie wurden als Schriftsteller gefeiert, der Schluss machte mit Pop und Spaß.

Das wurde alles verkürzt wiedergegeben. Ich weiß doch, dass man gerade im Krankenhaus viele Witzchen macht und aufpassen muss, nicht zum Zyniker zu werden. Aber die Sache mit der Ironie und dem Pathos, die treibt mich auch weiterhin um.

Sie mögen keine Ironie?

Ich mag sie dann nicht, wenn sie nur zum Selbstzweck dient. Ich meinte damals, dass in einer Notfallambulanz oder auch einer Gefängniszelle, wenn man es wesentlich betrachtet, keine Ironie mehr möglich ist. Diese Abwesenheit von Ironie bedeutet, in einer Situation zu sein, einer Entscheidungssituation, die keinen Ausweg lässt. Was mache ich, wenn ich allein in einer Ambulanz bin, und zwei Verkehrsunfallopfer vor mir verbluten? Wem helfe ich von den beiden?

Hat diese Einstellung nicht auch mit Ihrer DDR-Biografie zu tun, mit dem Bruch ’89?

Bestimmt, Ich hatte ja noch Glück, ich bin Jahrgang 1968 geboren. Das Schicksal unserer Elterngeneration treibt mich um, die hat es verbüßt. Durs Grünbeins Vater etwa, der war, glaube ich, bei Interflug Ingenieur, er konnte nur noch in den Vorruhestand gehen. Oder mein Vater. Nach der Wende wurde er Pharma-Referent. Bei seinem ersten Arbeitseinsatz in Polen stahl man ihm gleich 25 000 West-Mark.

In der DDR hatte diese Generation aber auch viele Schwierigkeiten.

Das ist ja die Crux: Wie ein Staat es schaffte, Lebensleistungen null und nichtig zu machen. Dieses langsame Resignieren. Ja, es gab diese Dissidentenschicksale, doch die waren nicht typisch. Als typisch empfand ich dieses schleichende Gedrücktwerden. Wie es mir ergangen wäre, hätte die DDR weiterexistiert, will ich mir lieber nicht ausmalen.

Aber Sie sind davon geprägt.

Wenn ich Wolfgang Hilbig lese, kommt mir alles wieder: die Zeit im Braunkohlerevier, die Arbeit in der Karbidfabrik. Wie das dort aussah! Tellerlampen an vier, fünf Meter langen Schnüren, von oben bis unten mit Dreck verkrustet, mit Staubfäden verziert, das Gehuste der Arbeiter. Durch die offenen Hallentüren wehte dieser graue Karbidstaub, überall. Die DDR war ein fürchterlicher Staat. Doch er hatte auch guten Seiten.

Welche?

Man hatte zum Beispiel massenhaft Zeit. Wenn man mit dieser was anzufangen wusste, war das ein Gewinn. Es gab doch auch Bücher, viele Bücher. Erst gestern habe ich mir in einem Dresdner Antiquariat eine Kafka-Ausgabe aus der DDR gekauft, von 1967. Ich dachte immer, Kafka hätte es erst 1983 gegeben. Es gab mehr, als man vermutete, nur bekommen musste man es, etwa auch Cees Nootebooms „Rituale“ Anfang der achtziger Jahre. Die DDR war eben nicht nur Karl Marx, sondern auch Goethe, Kleist und Eichendorff – ein humanistisches Projekt.

Das Gespräch führte Gerrit Bartels.

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