Potsdamer Winteroper: Uralte Geschichte mit Fragezeichen
Verena Stoiber inszeniert in der Friedenskirche für die Potsdamer Winteroper „Israel in Egypt“.
Als Zehnjähriger fand man in der Christenlehre die Geschichte vom Auszug der Israeliten aus Ägypten spannend wie einen Abenteuerroman: In Ägypten waren laut Altem Testament die Israeliten Sklaven. Sie flohen unter der Leitung von Mose aus dem Lande Pharaos. Auf ihrer Flucht müssen sie das unüberwindliche Schilfmeer überqueren. Moses erinnerte sich, dass Gott ihnen gesagt hat: „Habt Mut, ich bin bei euch, ich helfe euch.“ Er streckte seinen Stab übers Meer und es teilte sich. So konnten die Israeliten trockenen Fußes das rettende Ufer erreichen. Auch die zehn Plagen, die Gott dem Pharao und seinem Volk zur Strafe für ihren Ungehorsam schickte, beschäftigten den kindlichen Zuhörer. Alles spulte sich ab wie in einem Film. Das einfach gestrickte Muster hat man verstanden: Das Gute siegt, das Böse geht unter.
Auch Georg Friedrich Händel war fasziniert von der Exodus-Geschichte, die im zweiten Buch Mose zu finden ist. Er gab seiner Begeisterung und seinem Reflektieren darüber in dem 1739 in London uraufgeführten Oratorium „Israel in Egypt“ zum Ausdruck und setzte sie in musikalische Bilder um. Bewegend die Klage des Volkes Israels über die Knechtschaft, eindrücklich, wenn in den Violinen die Frösche wild umherhüpfen, die Heuschrecken und Insekten in rasenden Zweiunddreißigsteln das Land bedecken, während Trompeten, Posaunen und Pauken mit einem achtstimmigen Doppelchor für Hagel und Feuerregen sorgen. Dunkelheit lässt die Ägypter sprichwörtlich in der Harmonik umherirren. Im nächsten Moment werden ihre Erstgeborenen von hämmernden Akkorden totgeschlagen. Der Jubel über die Befreiung wird schließlich zu einem machtvollen Lobgesang.
Die farbenreiche Musik Händels wird ab 24. November in der Friedenskirche Sanssouci erklingen. An sechs Abenden ist „Israel in Egypt“ zu erleben. Als Dirigent fungiert Konrad Junghänel, Regie führt Verena Stoiber. Die Potsdamer Winteroper, die seit 2005 von der Kammerakademie Potsdam und dem Hans Otto Theater zu einer Erfolgsgeschichte geführt wurde, ermöglicht die Begegnung mit dem Oratorium.
Der gebürtige Hallenser Georg Friedrich Händel, der in London 40 Jahre lang als Komponist wirkte, befand sich im Einklang mit der englischen Tradition und mit dem Zeitgeist, nämlich alttestamentarische Stoffe in große und klangmächtige Oratorien zu vertonen. Der Vorliebe seiner zumeist Londoner Mäzene für die schöne Äußerung italienischer Kultur, für den Reiz virtuosen Gesanges, mit dem auch er sein Publikum angelockt und verwöhnt hatte, entsprach Händel ab 1739 mit seinen Oratorien nicht mehr. Sie erforderten ein sich wandelndes Publikum, andere geistige Voraussetzungen und eine andere Erwartungshaltung an das, was nunmehr auf dem Theater dargeboten werden sollte.
Für die Regisseurin Verena Stoiber, die aus Bayern stammt und in München Schauspiel- und Musiktheaterregie studierte, die 2014 den begehrten RingAward des Regietheaterwettbewerbs in Graz gewann, sind die Geschichten, die in Opern erzählt werden, voller Fragezeichen. Unlängst hat sie in ihrer Inszenierung von Wagners „Tristan und Isolde“ in Graz zwar mit einer psychologisch fundierten und hintergründigen Personenregie sehr überzeugen können, doch alle Fragen, die diese Oper aufwirft, wollte sie nicht beantworten. Das Publikum ist gefragt. Verena Stoiber wird Händels „Israel in Egypt“ nicht eins zu eins erzählen. „In der Inszenierung soll es um die Unterdrückung jedweden Volkes durch machtausübende Obrigkeit gehen, unabhängig von Staatszugehörigkeit“, sagt sie. „Wichtig ist uns, die Landesgrenzen aufzulösen, und dem kriegsverherrlichenden Bibeltext eine andere Ebene entgegenzusetzen. So haben wir aus der Musik heraus eine Bilderwelt geschaffen, die zwar Bezug zum Text nimmt, dabei aber ihre eigene Geschichte erzählt.“ Im Zentrum des Werkes stehe der Chor. „Er bildet das Volk, wechselt die Seiten, ist Opfer und Täter.“
Die vier Solisten, die bei Händel nur mit ihren Stimmfächern benannt werden, lässt die Regisseurin als „Untoten“ auftreten. Sie haben sich über Jahrhunderte hinweg als Stereotypen gehalten. „Jede dieser Figuren scheint das Gefühl zu haben, direkt von Gott berufen zu sein. Sie verkörpern Religion, Kirche, Militär und Monarchie, halten die Fäden in der Hand und (ver)leiten das Volk.“ Der leider noch aktuellen Thematik von Vertreibung und Flucht, Krieg und Tod gibt Verena Stoiber in ihrer Inszenierung einen wichtigen Platz. Mit Gedichten der syrischen Lyrikerin Hala Mohammed. Im vergangenen Sommer fuhr sie nach Paris, wo die Dichterin im Exil lebt. Verena Stoiber überzeugte sie, für die Potsdamer Aufführung Gedichte zu schreiben. Eine ganze Reihe verfasste die Dichterin und gab sie zur Übersetzung frei. Die Gedichte, rezitiert von einer „Kriegerin“ (Marie Smolka), werden Hala Mohammeds Ängste, Verlust oder Trauer zur Sprache bringen. „Ihre Texte bilden eine kritische Kommentarebene in dieser Inszenierung“, sagt Verena Stoiber.
In der Exodus-Geschichte singt Mirjam, die Schwester von Mose, ein Lied, das in die Zukunft weist. Ob Verena Stoiber in ihrer theatralen Erzählung Mirjams Lied mit den Erfahrungen von Bedrückung und Befreiung bedenkt? Einfach wird sie es den Zuschauern sicherlich nicht machen, keine Abenteuergeschichte auftischen, aber vielleicht davon erzählen, dass Menschen nicht ein Leben lang auf der Flucht bleiben müssen.
Potsdamer Winteroper mit „Israel in Egypt“ ab 24. November in der Friedenskirche Sanssouci
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