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© Sven Marquardt

Akademie der Künste: Transit nach Nirgendwo: Das letzte DDR-Jahrzehnt

„Übergangsgesellschaft“: das DDR-Jahrzehnt vor der Wende in einer Ausstellung der Berliner Akademie der Künste.

Die Lippen der Alten und Jüngeren sind geschlossen. Nur die junge Frau zeigt ein Stück Zahn. Die Haare sind verwuschelt. Alle sechs sind zwischen 30 und 70 Jahre alt. Sie sehen erschöpft aus. Scheinen zu schlafen, zu atmen. Das weiße Laken geht bis an den Hals, umspielt ihren Kopf. „Übergangsgesellschaft“ heißt die Ausstellung. Die „Totengesichter“ gehören zu einer Dokumentation Rudolf Schäfers von 1983. „Kriegsspuren“ und „Stadtbilder“ nennt der Fotograf seine topografischen Wahrnehmungen im lädierten Berlin. „Portraits“ präsentieren selbstbewusste Individuen und Paare, wie die Nackte und der ausgehfertige Mann neben dem Gummibaum. „Generation“ ist eine artige Parade der Teens und Twens: FDJ-Kreisleitung, Lehrlinge, Studenten, Schülerinnen, zwei verhuschte Punks. Orte und Personen beweisen, dass die DDR etwas weniger lustig war als „Sonnenallee“ und „Good bye Lenin“. Die Komposition historischer Melancholie skizziert den Status quo. Vom Übergang, wohin auch immer, erzählen die Bilder der Aufgebahrten. Nicht jede Grenze ist eine Passage.

Als 1988 Volker Brauns Theaterstück „Die Übergangsgesellschaft“ zur Uraufführung (Ost) kam, fragte das Neue Deutschland, ob die Figuren dieses Autors Zukunftsvisionen besäßen. „Nachsinnend über die Kämpfe seiner Klasse, über die Sieghaftigkeit der Revolution, über Opfer, über Irrtümer, über seinen im Grunde bescheidenen Platz in diesem Ringen beschwört der Kommunist Wilhelm] … das Bild einer für die bessere Welt kämpfenden Persönlichkeit.“ Doch werde diese Botschaft gebrochen durch die „emanzipatorische Selbstfindung“ jener Figur Irina, die „in anarchistischer Anwandlung“ ihr Elternhaus anzünde.

Den Namen der Braunschen Komödie hat sich nun, im Jubiläumsjahr des Mauerfalls, die Akademie der Künste als Überschrift für ihre „Porträts und Szenen 1980 bis 1990“ geborgt. Ihr Haus am Pariser Platz, wo seinerzeit Räume der Grenztruppen, von Meisterschülern und Fritz Cremers Bildhauer-Atelier aneinanderstießen, gibt die authentische Kulisse. Im Granitboden sind die vormaligen Grundrisse der Amtsstuben und einer Zelle für „Grenzverletzer“ markiert. Am 2. Oktober 1971 war hier der 30-jährige Dieter Beilig, ein provokanter Demonstrant für die deutsche Einheit, beim Versuch, durchs Fenster zu flüchten, aus zwei Metern Entfernung erschossen worden.

Eigentlich war Sozialismus nur als Übergang zum Kommunismus geplant: kommentiert Matthias Flügge, der mit Thomas Heise diesen Bilderreigen von der „Inkubationszeit der Wende“ eingerichtet hat, das „praktische Versanden“ marxistischer Utopie in realexistierender Stagnation. Vorwiegend schwarz-weiße Fotografien skizzieren den Transit ins Nirgendwo. Dabei entsteht – avantgardistische Verrenkung abgeschnittener Gliedmaßen bleibt die Ausnahme – ein lakonisches Poesiealbum der verlorenen Zeit.

Fotografie war, sagt Flügge, das agilste, authentischste Medium in Ostdeutschland. Matthias Leupolds angestrengte Inszenierungen stellen einen schreienden, seine Knarre auf die eigene Stirn richtenden Mann unter Kinozuschauer mit 3D-Brillen und eine junge Frau mit Messer vor ein halbgeöffnetes Eisenrollo. Sven Marquardt würdigt die trotzige Tristesse erotisch posierender Nischen-Narzissten. Helga Paris verewigt den introvertierten Peter Brasch, den lustigen Bert Papenfuß, den doppelbelichteten Sascha Anderson. Karin Wieckhorsts „Fotoprotokoll“ feiert einen Lederjacken-Künstler mit Stoppelglatze samt bedeutungsvollem Chaos-Interieur im Hinterhaus von Karl-Marx-Stadt. Gundula Schulze-Eldowys Dia-Schau uriger Typen wird von eigenen Kommentaren („Berlin glich damals einer untergegangenen Stadt“) zum Sozialkitsch überhöht. Erasmus Schröters Infrarot-Studien „Mann mit Maske“ und „Drei Männer warten“ tasten im Dunkel nach dem Geheimnis Realität. Roger Melis fixiert rührende Momente: die Aufseherin auf der Museumsinsel, Blick in die Ferne, Kinn in der Hand, neben einer verhüllten Statue und einem Torso (1980); die ausreisende Liedermacherin Bettina Wegner vor leeren Wänden (1983); bodenständige Freundlichkeit der Thekenfrau und des Kellners mit Fliege im Kulturhaus Eberswalde (1980); uckermärckische Waldarbeiterinnen im apokalyptisch flammenden Gehölz (1987). Dietrich Oltmann fährt mit Wolfgang Hilbig durch dessen Heimat Meuselwitz, findet verbogene Gleise, Brachen, Müllhalden, Gardinen (1983). Bedrückt mustern uns im Frühjahr 1989 Frauen vom VEB Leipzig Färberei und Chemische Reinigung. Frank Gaudlitz hat den Porträts Produktionsmittel – Bügelbrett, Kleiderständer – gegenübergestellt, mit denen die Werktätigen seit Jahren, Jahrzehnten hantieren. Ihre Augen konstatieren: Das Leben ist fast vorbei.

In Übermalungen, Überblendungen spiegelt sich, was die Kuratoren als den Bruch der 80er Jahre erkennen: die Aufkündigung einer „melancholischen Einverständlichkeit mit der existentiell gegebenen Situation“. Die Überschmierung eingangs gehängter Fotobearbeitungen auf Postern von Lutz Dammbeck geriert sich anarchisch. Kurt Buchwalds unscharfe Portraits vor scharfem Hintergrund – „Ein Streifen Tag, ein Streifen Nacht“ (1987/88) – verweigern die Eindeutigkeit des Individuums.

Als Aufregung hat schließlich Thomas Heise den letzten Raum konzipiert. Dort sind parallel zu sehen: die Vopo-Bewerbung idealistischer Jungen (1985), Statements von Gefangenen und Beamten in Brandenburg (Dezember 1889), eine Hochzeit in Mitte (1984), die Räumung besetzter Häuser in der Mainzer Straße (1990). Wer eine DDR-Telefonzelle betritt, hört den Vereinigungs-Disput der AdK Ost und West. Der Künstler nennt all diese Doku-Schnipsel „ungelenke Selbstäußerungen auf schwankendem Boden“. An der Wand hängen Fotos von Ulrich Burchert: Fritz Cremers Fäuste ballende, unvollendete Plastik „50 Jahre Oktoberrevolution“ wird im Frühjahr 1989 aus dem Akademie-Bau am Pariser Platz übers MauerNiemandsland fortgeschafft.

Am Ausstellungseingang thematisiert ein Kleist-Zitat die Frage nach dem verlorenen Paradies: „Mithin … müßten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen? – Allerdings, antwortete er, das ist das letzte Capitel von der Geschichte der Welt.“ Vor dem letzten Raum hängt ein Ikonostas mit 50 Porträts: „Besucher“. Ulrich Wüst hat in den 80er Jahren seine Gäste abgelichtet. Sie blicken ins Offene. Kritisch, skeptisch, gelassen, ironisch, verhalten, abgeklärt, naiv. Hier entdecken wir, gelegentlich, gar ein Funkeln in den Augen; ein paar sind verbissen, naja. Ganz ohne Freunde wäre die Passage ins letzte Kapitel, das verstehen wir nun, eine trostlose Partie.

Akademie der Künste, Pariser Platz, bis 11. Okt., Di–So 11–20 Uhr.

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